Luft holen

Gestern klappte es mit der Schreibübung nicht, aber immerhin habe ich den Anfang davon hinbekommen. Heute hab ich weiter geschrieben.

Hab auch gute Fotos gemacht. Es war sehr warm. Hab wieder die Sonnencreme vergessen, aber war auch nicht lange draußen.

Diesmal wurde die Schreibübung sehr lang. Der Titel war zuerst “Veronikas Flucht”, aber dann dachte ich, dass ich es in dieser Übung nicht mehr hinkriege, dass sie flieht, darum hab ich es in “Der Arztbesuch” geändert.

Dinge, über die ich nachgedacht hatte, hab ich mit rein nehmen können. Und am Ende hätte ich die Überschrift dann auch lassen können.

Ich muss nicht jeden Tag schreiben. Es ist nur wichtig, dass ich am Ball bleibe. Einmal durch die Fehlerprüfung gejagt und fertig. Drei Romananfänge, die nichts geworden sind, können zusammen immer noch etwas ergeben, was brauchbar ist.

Ich plane nichts mehr. Ich denke nach, aber ich plane nicht. Ist vermutlich nicht so mein Ding. Ich schreibe, um die Geschichte selbst mitzuerleben.

Ich werde es erst überarbeiten, wenn ich es zu Ende geschrieben habe. Geplant waren 52 Schreibübungen pro Jahr. Eine pro Woche. Das war realistisch. Keine Ahnung, warum ich plötzlich dachte, ich müsste jeden Tag was schreiben. Nun schreibe ich sogar öfter, als ich es ursprünglich geplant hatte. Ich muss endlich aufhören, immer unzufrieden zu sein und mich selbst unter Druck zu setzen.

Der Arztbesuch
Am nächsten Morgen erwachte Veronika schon sehr früh. Sie streckte ihre steif gefrorenen Extremitäten und rappelte sich hoch. Dann schaufelte sie einen Eimer Futter aus dem Fass und schob die Stalltür auf. Die Sonnenstrahlen krochen hinter dem morgendlichen Nebel hervor. Das Gras war nass und wusch den Mist von ihren Füßen. Sie ging zum Gatter und öffnete es, dann füllte sie das Futter in den Trog. Die Schweine kamen herbeigerannt und begannen laut zu schmatzen.
Veronika gähnte. Verschlafen schloss sie das Gatter hinter sich und erledigte ihre anderen Pflichten. Stalltüren öffnen, Hühner füttern, Eier einsammeln und die Ziegen melken. Etwas Milch füllte sie in eine Schale und gab es der Katze, die seit einigen Wochen auch hier wohnte. Der Stall war voller Mäuse und Ratten. Die Mäuse machten nur Dreck, aber im Stall stank es ohnehin ziemlich. Die Ratten waren schlimmer. Des Nachts holten sie sich die Kücken weg oder sie knabberten das Holzfass mit dem Körnerfutter an. Das war ein Problem, dass sie alleine gelöst hatte. Dafür hatte sie von ihrer strengen Mutter, die ewig unzufrieden war, sogar ein Lob bekommen. Als sie alles erledigt und kontrolliert hatte für diesen Morgen, schlich sie sich verstohlen zum Fluss herunter, um sich zu waschen. Es waren nur ein paar Schritte, aber ihre Mutter hatte es streng verboten. Es sei zu gefährlich. Doch der Fluss war gar nicht so tief. Sie liebte es, so wie jetzt, ihre geschwollenen Füße in das kühle Wasser zu halten. Ihre Mutter schien es zu genießen, wenn sie jedem erzählen konnte, wie schmutzig doch ihre Tochter war.
„Sie kommt aus den Bergen“, sagte sie dann immer. Veronika verstand nicht, was das bedeuten sollte. Aber die Leute aus den Bergen waren anscheinend immer mit einer Staubschicht bedeckt.
Nach der dürftigen Morgenwäsche betrat Veronika das Wohnhaus und bereitete das Frühstück für ihre noch schlafenden Eltern zu. Frische Eier, die sie mit Fischfett in der Pfanne briet und ein Brei aus gekochtem Getreide, das schon seit Gestern in Wasser eingeweicht wurde. Außerdem frisches Fladenbrot. Heute Mittag würde es Kartoffelsuppe geben. Als sie mit den Vorbereitungen fertig war, setzte sie sich in die Ecke des Raumes auf eine Matte und wartete, bis ihre Eltern wach waren. Der Vater setzte sogleich den Kaffee auf, eine Mischung aus Gerstenmalz und Löwenzahnwurzel. Das war nur für die Erwachsenen. Er lächelte sie an und sagte: „Veronika, setz dich doch!“
Aber Veronika war nicht dumm. Sie würde nicht an den Tisch gehen, bis ihre Mutter ihr das erlaubte. Es war seine Art, sie zu verletzen. Indem er ihr Sachen erlaubte, die ihre Mutter wütend machten. Die Waschschüssel benutzen, Kaffee trinken, sich zuerst an den Tisch zu setzen, sich zu weit vom Haus zu entfernen. Ihre Mutter wollte nicht, dass jemand sie sieht. Vermutlich, weil sie aus den Bergen stammte. Veronika verstand nur nicht, warum ihre Mutter es einerseits allen erzählte, es aber schlimm fand, wenn jemand sie zu Gesicht bekam. Mit ihren Eltern umzugehen und nicht dabei kaputt zu gehen, war wie ein Spießrutenlauf.
Als ihre Mutter den Raum betrat, hielt sie sich den Bauch und krümmte sich vor Schmerz. Beim Anblick des fettigen Essens wurde sie bleich. Kalter Schweiß sammelte sich in ihrem Gesicht. Zielsicher schleppte sie ihren alten Körper vor die Tür der Hütte und übergab sich auf dem Hofplatz. Als sie wieder hereinkam, wischte sie sich die restliche Kotze vom Mund und befahl: „Veronika geh nach draußen und mach das weg!“
Dann setzte sie sich an den Tisch und trank vorsichtig den Kaffee, den ihr Ehemann zubereitet hatte. Veronika stand auf und ging vor die Tür. Sie schaute auf den Kotzehaufen und war ratlos. Sie wusste nicht, wie man so etwas wegmachte.
„Beeil Dich!“, brüllte ihre Mutter. So krank schien sie nicht zu sein. Veronika holte die Schaufel aus dem Stall und buddelte die Kotze ein, so dass nichts mehr davon zu sehen war. Dann lief sie zurück in die Hütte und wollte sich gerade an den Tisch setzen, als ihre Mutter sogleich den nächsten Befehl brüllte: „Veronika, mach den Anhänger fertig. Du musst mich heute zum Arzt fahren!“
„Soll sie nicht erst essen?“, fragte der Vater, doch die Mutter jammerte: „Siehst du nicht, wie schlecht es mir geht? Sie ist robust. Sie wird es schon verkraften. Pack das Essen ein, ich werde es dem Arzt als Bezahlung anbieten. Wir haben kein Geld für Medizin.“
„Ach Liebling. Das ist nicht so schlimm. Wenn nötig verkaufen wir eben ein Schwein! Deine Gesundheit ist es wert. Zwei Schweine reichen immer noch für die Zucht.“
Die Schweine! Veronika hatte ihr Leben lang so etwas befürchtet. Schweine sind zum schlachten da. Sie produzieren Fleisch, sonst nichts. Ihre Knie wurden weich und sie fühlte, wie der Kloß im Hals größer wurde. Ihre Mutter brüllte plötzlich:
„Steh da nicht so herum! Mach den Wagen fertig, du dummes, nutzloses Ding!“
Veronika rannte schleunigst Richtung Tür. Als sie die Hütte verließ, hörte sie ihre Mutter sagen:
„Was für ein schwerfälliges und nutzloses Stück Dreck sie doch ist. Sie bringt mich noch ins Grab!“
Ihr Vater flüsterte nun unaufhörlich beruhigend auf ihre Mutter ein. Veronika holte den Bollerwagen und legte für ihre Mutter Kissen und eine weiche Decke hinein. Da sie keinen Bissen herunterbrachte, kam ihr Vater mit der stöhnenden, kranken Frau im Arm gleich heraus und hob sie vorsichtig in den Wagen. Veronika spannte sich selbst vor den Wagen und zog ihre Mutter ins Dorf, wie sie sonst Feuerholz, Kartoffeln oder Getreidesäcke zog. Sie war sich nicht mehr ganz sicher, wo der Arzt wohnte, aber ihre Mutter brüllte von hinten die Befehle, wie gewohnt: „Links, Rechts, jetzt bleib stehen, Du liederliche Kuh!“
Veronika hoffte, dass ihre Mutter bald wieder gesund werden würde, denn krank war sie noch viel unberechenbarer. Sie klopfte an die Tür und half der Schwester, ihre Mutter aus dem Wagen zu bekommen. Die schrie nun gerade besonders laut und konnte gar nicht mehr aufhören, zu jammern. Veronika setzte sich draußen auf eine Bank, während ihre Mutter drinnen behandelt wurde. Sie dachte an das erste Mal, als sie den Wagen gezogen hatte. Blasen bekam sie davon immer noch. Der Rückweg würde schwieriger werden, als der Hinweg. Das war immer so.
Sie betete zu einem Gott, den sie gar nicht kannte, dass die Arzt-Rechnung nicht so hoch sein würde. Ihre Schweine waren ihre einzigen Freunde. Sie waren das, was ihr Leben lebenswert machte. Es dauerte sehr lange. Eine Weile hörte sie ihre Mutter noch jammern, dann wurde es still. Was, wenn sie so krank war, dass sie bald starb? Dann wäre sie alleine mit ihrem Vater. Er war nicht ihr leiblicher Vater. Das hatte er ihr oft genug gesagt, wenn er sie früher regelmäßig nachts im Stall besucht hatte. Einmal in der Woche betrank er sich und fiel über sie her. Er kam so lange zu ihr, bis ihre Mutter ihn dabei erwischte. Veronika schämte sich nicht, denn sie hatte das ja nicht gewollt. Das alles nicht. Wenn ihre Mutter zuvor abweisend und kalt war, war sie danach bösartig und rachsüchtig. Veronika hätte alles dafür gegeben, bei einer ordentlichen Familie zu leben. Sie wollte gar nicht geliebt werden, sie wollte nur nicht immer wie eine Missgeburt behandelt werden.
Von der Bank aus konnte sie auf den Marktplatz blicken. Weiter hinten unter einem Baum war ein schwarzer Fleck. Da hatten sie versucht, das andere Mädchen zu verbrennen. Veronika schaute sich vorsichtig um. So früh morgens war hier noch niemand unterwegs. Sie lief zu dem Baum. Dort lag ein Haufen Asche. Sie wühlte mit den Füßen darin herum. Eine Geldbörse wurde sichtbar. So etwas hatte Veronika noch nie besessen. Schnell klopfte sie die Asche davon ab und öffnete sie. Es waren 15 Taler darin! Schnell steckte sie ganz tief in ihre Hose, damit niemand ihr das jemals wieder wegnehmen könne. Doch vielleicht konnte sie damit auch die Arztrechnung bezahlen? Aber was der Mutter sagen, woher das Geld käme? Sie würde denke, dass sie es gestohlen hätte. Veronika wühlte weiter in der Asche herum. Ein Ärmel der Jacke war noch ganz, der Rest war verbrannt. Eine lange große Feder stecke direkt unter dem Baum in der Erde. Sie ging ein paar Schritte darauf zu und nahm sie an sich. Da entdeckte sie, dass dort ein Rucksack im hohen Gras lag. Sie musste ihn an sich nehmen. Aber wie? Der war zu groß, um ihn in ihrer Hose zu verstecken. Sie schnappte ihn sich. Er war schwer und der Inhalt klapperte. Hinten im Wagen war eine Klappe für Kleinigkeiten, die ihre Mutter immer kaufte. Nähzeug, Werkzeug, Gemüse, Kleidung. Sie lief zu dem Wagen, stopfte die Geldbörse und den Rucksack in einen der Kartoffelsäcke, mit dem sie den Wagen ausgestopft hatte, dann warf sie alles in die Klappe. Glück gehabt, denn kurz darauf kam ihre Mutter aus der Arztpraxis. Wieder erwarten lief sie aufrecht und lächelte breit. Sie kletterte geschickt selbst in den Wagen. Veronika staunte nicht schlecht.
„Ab nach Hause!“, rief die Mutter übermütig und Veronika fing an, den Wagen zu ziehen. Immer wieder musste sie absetzen, weil die Blasen an den Händen aufplatzten und es höllisch weh tat. Endlich zu Hause angekommen, half sie der Mutter aus dem Wagen und brachte ihn schnell zurück in den Stall auf seinen Platz. Sie holte den Sack heraus und versteckte ihre Beute im Heu. Aus der Ferne hörte sie ihre Mutter und ihren Vater laut lachen. Was war das nur für eine merkwürdige Krankheit? Veronika schlich sich unter das Fenster und lauschte.
„Und das in unserem Alter!“, rief ihr Vater.
„Ich habe mir das so gewünscht, ein normales Kind zu bekommen, verstehst du? Und jetzt wird es endlich wahr. Das Einzige, was unser Glück schmälert ist dieses…“
„Ist ja gut, Schatz, ich verstehe, was du meinst. Wir schicken sie weg, wenn es dir dann besser geht. Sie ist inzwischen alt genug.“
„Aber ist es wirklich das Beste? Vielleicht wird sie in den Wäldern umkommen? Immerhin ist sie meine Tochter irgendwie…“
„Ja, schon, aber nun haben wir bald ein richtiges Kind. Von mir und von dir. So wie es sein soll.“
„Ich dachte immer, du magst sie lieber als mich?“
Ihre Mutter begann nun zu schluchzen.
„Nein, Schatz. Es war doch nur, weil du mich immer abgewiesen hast. Sie bedeutet mir gar nicht. Sie ist nur ein kleines Stück Dreck, wie du gesagt hast! Eine Missgeburt. Wir hätten sie gleich nach der Geburt im Fluss ertränken sollen!“
„Wirklich?“
„Das musst du doch wissen!“
„Woher soll ich das wissen, wenn du zu ihr gehst, um zu…“
„Ist ja gut, Schatz. Es ist ja vorbei. Es tut mir so leid. So leid. Ich liebe nur Dich. Es war ein Fehler. Ein großer Fehler.“
Ihre Mutter beruhigte sich nun wider und eine Weile war es still. Veronika hatte still dagesessen. Sie fühlte sich gerade, als wäre sie völlig körperlos und könnte vom nächsten Windhauch davon getragen werden. Dann fing ihre Mutter an, laut nachzudenken:
„Aber die schwere Arbeit im Stall und auf den Feldern. Wer wird das machen, wenn sie weg ist? Ich falle ja bald aus, wie du weißt. Und du mit deinem Bein…“
„mach dir keine Sorgen. So arm sind wir nicht. Wir schlachten morgen die drei Schweine und verkaufen das Fleisch auf dem Markt. Ich bin sicher, dass viele Dorfbewohner den ständigen Fisch leid sind. Und dann haben wir genug Geld. Holz für einen Anbau holen wir uns einfach aus dem Wald und dann stellen wir einen Knecht ein. Ich zimmere Dir dann eine schöne Kinderwiege!“
Veronika schluckte, aber der dicke fette Kloß wollte einfach nicht ihren Hals herunter. Sie hatte selbst nie ein Bett gehabt. Vermutlich hatte sie als Baby auch schon auf dem Boden schlafen müssen. Damals, als ihre Eltern entschieden, sie doch nicht im Fluss zu ertränken…
„Wir könnten mehr Geld verdienen, wenn wir die Schweine für die Zucht benutzen. Es wäre dumm, sie alle drei zu schlachten. Wir brauchen aber nicht zwei Eber, sondern zwei Sauen. Das wäre besser.“
„Eins müssen sowieso schlachten. Damit bezahlen wir die Arztrechnungen und können vielleicht später eine zweite Sau dazu kaufen. Es kommen immer wieder Händler über den Ozean zu uns. Sie haben alles mögliche an exotischen Tieren dabei. Sicher auch bald wieder Schweine.“
„Eigentlich gehören die Schweine ja Veronika. Es war ein Geschenk ihres leiblichen Vaters aus den Bergen. Ich kann sie ihr doch nicht wegnehmen. Wenn er jemals wieder hierher kommt, dann wird er mich fragen, was los war.“
„Ach Liebling. Du bist einfach zu gut. Sie weiß es ja nicht, oder hast du ihr es jemals gesagt?“
„Natürlich nicht.“
„Er wird niemals wieder hierher kommen. Er hat sich die letzten sieben Jahre auch nicht für seine Tochter interessiert. Und wir brauchen das Geld!“
„Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir erst mal warten, ob mit dem neuen Kind alles gut wird. Ich werden jeden Tag zum Arzt müssen. Vielleicht werde ich bettlägerich. Vielleicht verliere ich es. So lange müssen wir Veronika behalten und die Schweine am Leben lassen, denn sie liebt diese Schweine. Sie könnte durchdrehen und uns etwas antun!“
„Wenn du so viel Angst vor ihr hast, sollten wir diese kleine Missgeburt sofort wegjagen!“
„Aber sie ist doch auch meine Tochter irgendwie!“
„Nein, nicht wirklich. Hast du sie dir mal angeschaut? Sie gehört dem Bergvolk an. Du hättest sie nach der Geburt dorthin schicken sollen per Kurier auf einem Schiff. Oder sie gar nicht erst bekommen sollen.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“
„Freu dich. Nun beginnt unsere richtiges Leben als Familie. Und dafür brauchen wir so eine Missgeburt einfach nicht! Sie wird dem neuen Kind nur alles wegfressen. Und uns wird sie auch bald die Haare vom Kopf fressen. Wir müssen sie loswerden, besser früher, als später.“
„Du hast ja recht. Die Arbeit kriegen wir auch noch hin. So viel ist es ja nicht. Und hier hat sie keine Zukunft.“
„So ist es, aber nun lass uns erst einmal zu Bett gehen, wir schlafen eine Nacht darüber. Es hat ja keine Eile! Morgen, übermorgen, nächste Woche! Ich lass mir dann was einfallen.“
Veronika keuchte angespannt. Sie war die Missgeburt, über die ihre Eltern gerade redeten. Für alles war sie gut genug. Nur um ihrer selbst Willen würde sie nie jemand lieben. Es waren ihre Schweine. Ihre Schweine. Sie hatte einen leiblichen Vater, der in den Bergen wohnte. Veronika schlich sich zurück in den Stall. Sie nahm den Rucksack und die Geldbörse aus dem Versteck. Sie setzte ihn auf und suchte sich ein langes Seil. Es war noch nicht ganz dunkel und ihre Aufgabe war es, die Schweine in den Stall zu holen. Sie nahm das Seil und lief Richtung Gatter. Die drei warteten schon, doch anstatt einfach das Gatter aufzumachen und zu warten, bis die drei Richtung Stall trotteten, öffnete sie es nur einen Spalt und schlüpfte auf die Koppel. Dann band sie das Seil um die Hälse der drei verwunderten Schweine und zog sie von der Koppel. Als sie merkten, dass es nicht Richtung Stall geht, wehrten sie sich, doch Veronika zog, so fest sie konnte. Sie zog ihre drei Schweine vom Stall weg, in Richtung Wald.
Der Wald war dunkel und beängstigend, aber sie würde nicht warten. Sie würde sie nicht weiter bedienen und abwarten, was sie mit ihr vorhatten, wann sie sie nun verjagen oder im Fluss ertränken oder einfach totschlagen würden. Sie würde nicht warten, ob sie ihre Schweine nun töten oder verkaufen würden. Nein. Veronika würde jetzt weglaufen. Ohne Boot, fast ohne Geld und fast alleine. Die Berge konnte man am Horizont noch sehen. Die Sonne verschwand gerade hinter ihnen. Ganz sicher konnte man auch dorthin laufen. Es würde lange dauern. Vielleicht würde sie hungern und frieren und noch mehr Blasen an ihren Füßen bekommen. Aber schlimmer als das, was sie schon erlebt hatte, würde es ganz sicher nicht werden. Veronika schaute ein letztes Mal zur Hütte. Ihr tat das neue Kind leid, denn ihre sogenannten Eltern waren gar nicht fähig, andere Lebewesen zu lieben, für sie zu sorgen oder mit Respekt zu behandeln. Sie würde später wiederkommen, aber zuerst musste sie sich selbst und ihre Schweine retten. Sie ließen ihr keine Wahl.
Im Wald war es stockfinster. Doch sie gewöhnte sich schnell an die Dunkelheit und lief unbeirrt immer weiter. Die Schweine wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie wollten in ihren gemütlichen Stall, wo sie sich in Sicherheit glaubten. Darum blieben sie immer wieder stehen und schauten störrisch zurück. Doch Veronika zog fest und beharrlich an dem Seil und zwang die Tiere und sich selbst, die ganze Nacht in den dunklen Wald hinein zu laufen. Auch die unheimlichen Geräusche der wilden Tiere vermochten sie nicht mehr abzuschrecken. Sie würde einfach am Fluss entlang gehen. Jeder Fluss kommt aus einer Quelle in einem Berg. Das wusste sie. Das hatte sie heimlich mitgehört, als sie von ihrem Ausguck aus in das Klassenzimmer geschaut hatte. Sie machte sich keine Gedanken darüber, was sie dort vorfinden würde. Sie lief einfach immer weiter stur in eine Richtung. Solange sie den Fluss neben sich rauschen hörte, war sie auf dem richtigen Weg. Solange war sie lebendig und solange würde sie auch kämpfen.