Das andere Leben

Es gibt ein Leben, das ich führe. Und es gibt das Leben, das ich führen will. Beides ist nicht perfekt und beides passt nicht zusammen, schließt sich gegenseitig aus. Ist es meine eigene Unfähigkeit? Sind es Sachzwänge? Oder ist es so, wie wenn man mit dem falschen Fuß aus dem Bett kommt und der ganze Tag versaut ist? Ich weiß es nicht. Ich bin zufrieden, wenn ich halbwegs gesund bin. Ich will nicht jammern. Es geht immer noch viel schlimmer.

Ich bin heute wieder vor der Glotze eingeschlafen. Wenn ich mir überlege, wie oft ich Wiederholungen von irgendwas schaue, dann ist das doch schon ganz schön viel verschwendete Lebenszeit. Ich sollte öfter mehr lesen. Meiner neuen “Diät” zu folgen klappt auch noch nicht besonders gut. Ich versuche mich nun an das zu halten, was ich den Leuten immer gesagt habe, als ich noch Ernährungsberaterin war. Das man sich die Sachen, von denen man weiß, dass sie schlimm sind, nur einmal in der Woche, beispielsweise am Sonntag, erlauben soll. Klappt noch nicht. Es liegt einfach immer zu viel im Schrank. Ich kaufe es nicht mal selber. Und bis auf Rehasport bewege ich mich auch noch viel zu wenig.

Meine neuen Nahrungsergänzungen sind angekommen. Die Dose MSM ist auch schon fast leer und Mariendistel-Komplex brauche ich in Zukunft wohl für die Leber. Der Tee ist noch nicht angekommen. Kaum zu glauben, aber das wenige Geld, was ich verdient habe, dürfte nun schon ziemlich aufgebraucht sein. Mein Garten ist dafür aber eine Quelle der ewigen Freude. Neben Dutzenden Vogelnestern hab ich nun auch den ersten Frosch gesehen. Gesehen ist zu viel gesagt, aber die Bewegungen erinnerten an einen Frosch, der ins hohe Gras weggesprungen ist. Ich würde zu gerne sehen, wie der neue Teich angenommen wird. Aber die Frösche sind vorsichtig geworden und da wachsen noch nicht viele Pflanzen in dem Teich, hinter denen man sich verstecken kann. Sie machen sich unsichtbar.

Ich hab endlich mal den Zement verbraucht und die Nisthilfe für die Bienen damit gebaut. Hab Sand mit hinein gemischt. Morgen müsste der Beton fest sein. Die Bienen nehmen die alten Nisthilfen zuerst. Heute war es wieder sehr warm und angenehm. Ich war lange im Garten. Leider hab ich dabei die Vögel beim Füttern ihrer Jungen gestört, denn die sitzen überall. Man kann sie gar nicht mehr nicht stören.

Hab den zweiten Teil des Zeitreiseromans geschrieben. Naja, zumindest könnte es eine Rohfassung sein. Ich versuche nun, öfter Schreibübungen zu machen. Es ist doch so, wenn ich mir vornehme, einen Roman zu schreiben, dann wird ohnehin nichts daraus. Genauso wie nichts daraus wird, wenn ich mir vornehme, weniger Süßes oder Kuchen zu essen oder jeden Tag Sport zu machen. Es ist so, als würde ich durch das Ziel setzen gerade verhindern, dass ich es schaffe. Aber ohne Ziel setzen vergesse ich, was ich will. Darum schreibe ich nun einfach immer drauf los. Ich konnte nicht weiter schreiben, weil zwischen dem Anfang und dem, was ich dann geschrieben hatte, noch etwas fehlte. Der Übergang. Und das habe ich jetzt. Wo die Reise hingeht, frage ich mich. Wie viele Anfänge werde ich noch hinkriegen, die dann mitten drin aufhören?

Der Zeitreiseagent Kapitel 2
Meister Gunna drückte ungeduldig den Knopf der Selbstmordmaschine, ursprünglich für sich selbst gebaut, bevor der Agent John Zeitvogel noch mehr dumme Sachen sagen konnte. Dieses ganze Getue war ihm zuwider. Die Art und Weise, wie er von diesen Studenten verehrt wurde, wie euphorisch und idealistisch sie waren und wie blind sie an ihren Traum von Zeitreisen glaubten. Die Welt verändern wollten sie alle, pah! Er drehte an einem Regler. Dem sogenannten Emotionsanzug wurde die Luft entzogen.
Wer glaubte denn so einen Mist? John bekam die Injektion, die ihn betäuben sollte. Er fing an zu röcheln, aber er wehrte sich nicht. Er war nicht fähig, es zu begreifen. Dieser einfältige Flegel glaubte tatsächlich bis zum Schluss, dass er in einer Zeitmaschine saß! Man setzt sich in eine Maschine, jemand drückt einen Knopf und dann geht es los und man reist durch die Zeit? Ja, das glaubten sie alle. Wie dumm sie doch waren.
Wie oft führte er sie alle in diesen Raum, in dem sie die Selbstmordmaschine bewunderten, die sie alle für eine Zeitreise-Maschine hielten. Mit glänzenden Augen betrachteten sie das Gerät, dass er einzig und allein entwickelt hatte, um dem eigenen Leben rechtzeitig und selbstbestimmt ein Ende setzen zu können, bevor seine Krankheit ihm die letzte Würde nahm. Es gab schon lange eine Heilung, aber die Medikamente zu nehmen, würde das Gleichgewicht des Universums beschädigen, da war er sich sicher. Er würde sein Schicksal annehmen. Mehr als das, er würde es beschleunigen.
Doch bis dahin war sein Lebensziel, zu verhindern, dass dumme Kinder durch die Zeit reisten und die Welt nach ihren idealisierten und unrealistischen Vorstellungen zu verändern versuchten.
Denn eines hatte Meister Gunna in all der Zeit, die er schon lebte, gelernt: Man konnte eine Sache nicht verbessern, ohne dass sich auf der anderen Seite etwas dadurch verschlechterte. Auch wenn es nicht so aussah, so war diese Welt doch schon in einem ständigen Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, Krieg und Frieden, Armut und Reichtum, Gesundheit und Seuche. Alles regulierte sich irgendwann selbst. Wenn es irgendwo von Irgendwas ein Übermaß gab, dann entstand dadurch irgendwo anders ein Gegengewicht oder es zerstörte sich mit der Zeit von selbst. Das Einzige, was man tun konnte, um die Welt im Gleichgewicht zu halten, war, so wenig wie möglich einzugreifen.
John bewegte sich nicht mehr. Er kämpfte nicht, zappelte nicht und röchelte nicht mehr. Er schien tot zu sein. Meister Gunna machte sich auf den Weg in sein Gewächshaus. Die nächste Vorlesung war erst am Montag. Er hatte John am Wochenende hierher bestellt. Nun musste er Platz im Komposter freiräumen, damit eine weitere Leiche hineinpasste. Johns Kommilitonen würde er vorlügen, John wäre durch die Prüfung gerasselt und sehr enttäuscht von sich selbst gewesen. Meister Gunna hätte ihm dann tröstend zur Seite gestanden und ihm den Rat gegeben, eine Weltreise zu machen, um wieder zu sich selbst zu finden und neue Lebensziele zu formulieren.
Er war inzwischen Meister im Erfinden dieser Geschichten geworden. In der Halle der Akademie hingen einige seine besten Lügen im Glasrahmen. Er hatte Briefe und Postkarten seiner verschollenen Studenten gefälscht. Niemand ahnte, dass sie in seinem Komposter langsam verrotteten und von Bakterien und Würmern zersetzt wurden. Einige Studenten motivierte diese Ausstellung der Misserfolge, die Akademie zu verlassen. Das rettete ihnen das Leben.
Bei manchen log er auch, sie hätten die Prüfung bestanden und beobachtete dann amüsiert, wie eine Hysterie unter den Studenten entstand. Sie meinten, bestimmte Veränderungen in der Gegenwart seien auf das Einwirken ihrer Freunde zustande gekommen. Sie bildeten sich ein, verschlüsselte Nachrichten von den angeblichen Zeitreisenden empfangen zu haben und derlei alberne Dinge. Er wusste nicht, warum er John durchfallen lies.
Wie auch immer. Den Abschluss zu machen, ob bestanden oder nicht, bedeutete in diesem Fall, in die Selbstmordmaschine zu steigen. Jeder, der sich das traute, musste sterben. Meister Gunna betrachtete seine preisgekrönte selbstgezüchtete Rose „grüne Kamelie“. Eine Rose mit einer grün-rosa schimmernden Blüte. Rosen sind nicht immer rot. Und Zeitreisen sind zwar möglich, aber nicht sinnvoll. Er dachte über John nach. Überrascht von diesem Gefühl, erkannte er bei sich Wehmütigkeit und verachtete sich gleichzeitig dafür. Noch nie hatte ihn ein Student so herausgefordert, wie dieser junge Mann. Er war erleichtert, dass er ihn nun los war. Aber in ihm waberte noch ein anderes Gefühl. Er strich mit dem Finger über die grüne Blüte. Da wurde es ihm bewusst. Er mochte John irgendwie. Ja, er bewunderte oder beneidete ihn sogar. Seine Energie, seine Zuversicht. Seine Euphorie und die Argumentation, mit der er Zeitreisen rechtfertigte, waren ohne Beispiel und sehr ansteckend. Meister Gunna würde die Wortgefechte vermissen, die er sich mit diesem Studenten geliefert hatte. Und dafür hasste er sich.
Doch er konnte nicht verhindern, dass er sich fragte, was John dazu gesagt hätte. Was, wenn er gewusst hätte, was wirklich vorging in dieser sogenannten Zeitreise-Akademie?
Er hätte mit Sicherheit gesagt, dass er, Meister Gunna, durch seine Handlungen ja auch in das Schicksal eingreifen würde. Das stimmte. Einmal durch die Gründung der Schein-Akademie, aber ganz besonders durch die Ermordung der Studenten. Er hätte angeführt, dass idealistisch eingestellte Studenten, so nervig sie für einen alten Mann wie ihn auch sein mögen, vom Universum so eingeplant gewesen sein könnten. Als Gegengewicht zu alten Männern wie ihm, die sich schon mit allem abgefunden hatten, weil sie dem Tode näher waren, als dem Leben. Nein, sie wollten alle nicht für sich selbst die Zukunft verändern, sondern die Zukunft aller Menschen. Doch er, Meister Gunna, wollte durch die Ermordung der Studenten einem persönlichen Bedürfnis folgen. Nämlich dem Bedürfnis, dass sich nichts mehr zum Besseren verändern würde, solange er noch in dieser Welt lebte. Das konnte man, so würde John sagen, als egoistisches Bedürfnis interpretieren, nicht durch allzu große Veränderungen irritiert zu werden.
Er, Meister Gunna, hätte geantwortet: „Was ist gut, was ist schlecht?“
Und John würde zugeben müssen, dass es subjektiv war, was man als Verbesserung und was als Verschlimmerung interpretieren konnte. Dann würde er aber anfangen, die „universellen Gesetze des gerechten Zusammenlebens im Universum“ zu zitieren, in denen genau formuliert wurde, was richtig und falsch war, welche Rechte ein Lebewesen hatte und welche Pflichten Regierungen zu erfüllen haben. Inzwischen hatten hunderte Planeten diese Erklärung der universellen Gesetze des gerechten Zusammenlebens unterzeichnet und sich so dazu bekannt. Ganze Galaxien hatten sich auf der Grundlage dieses Gesetzestextes zusammengeschlossen und Armeen aufgestellt. Und was tat er? Ihn gefiel etwas nicht und darum brachte er seine eigenen Studenten um. Waren das nicht gerade die, die zu ihm aufschauten, die ihn bewunderten, die an seinen Lippen hingen und seinen Worten lauschten? Was hatte er getan? Er öffnete den Deckel eines Komposters. Er sah, wie die Würmer sich hektisch wanden. Den Rest Salat von seinem Mittagessen gestern hatten sie schon halb zersetzt. Fleißige Tierchen. An der Seite schauten die Finger seiner letzten Studentin heraus, die bei ihm zur Zeitreiseprüfung angetreten war. Er hatte sie bestehen lassen. Trotzdem war sie tot. Ihre Eltern waren so stolz auf sie. Er fühlte sich mies, als er ihnen gratulierte. Sie würden sie nie wieder sehen.

Vielleicht war er es ja, der durch seine falschen Lehren, seine Lügen und sein Morden das empfindliche Gleichgewicht im Universum zerstörte? Bisher verstand der sich als Werkzeug dieses Gleichgewichtes, aber stimmte das überhaupt?
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz seine linke Seite. Mein Gott, dachte er, ich bin nichts als ein verdammter Mörder! Ein selbstverliebter Psychopath!
Als er das erkannte, ging er rasch und schuldbewusst zurück in den Prüfungsraum und schaltete die brummende Selbstmordmaschine ab. Er öffnete die Schnallen des Anzugs und zog John von dem Sitz herunter. Er riss ihm die Haube vom Kopf und fühlte seinen Puls. John lebte noch. Er atmete sehr flach und sein Herz schlug sehr langsam und leise, fast so als wäre er tiefgefroren gewesen. Er lebte, doch er reagierte aber nicht mehr. Meister Gunna wies seinen Androiden-Diener an, John in das Gästebett zu legen. Er lies einen Arzt kommen, jemandem, dem er vertrauen konnte. Doch der konnte ihm nicht helfen. Danach suchte Meister Gunna Hilfe bei Ärzten im gesamten Universum. Doch John reagierte nicht mehr. Er war tot und doch nicht tot. Es war, als hätte die Maschine ihm seine Seele aus dem Körper gerissen.