Schwierige Geschichte

Die Geschichte geht weiter. Ich hab noch einige Kapitel übrig und einige offene Fragen. Ich mache mir schon Gedanken um die Überarbeitung, aber erst mal muss die Rohfassung fertig.

Ich bin einige Zeit nicht wirklich voran gekommen, aber das passiert öfter mal. Ich beginne mir Fragen zu stellen. Ist die Handlung rund? Ist es überhaupt eine Handlung? Wenn ich routinierter wäre, könnte ich leichter erkennen, welches die Stärken und Schwächen meiner Geschichte sind. Ich will nicht durch Selbstkritik und übermäßige Selbstzweifel und Abwertungstendenzen meiner eigenen Leistungen alles wieder zerstören. Ich schätze, das war auch das, was mich bisher daran gehindert hat, etwas längeres fertig zu kriegen.

Sicher, ich habe schon ein paar Mal den Nanowrimo mitgemacht, aber das war anders. Ich habe das nicht so empfunden, dass ich eine Novelle geschrieben habe, geschweige denn einen Roman. Es war eher eine Ansammlung von Worten, aus Assoziationen und flüchtigen, unausgegorenen Ideen entstandene Wortbatzen. Keine Handlung. Nur eine Menge Worte.

Ich haben einfach so drauf los geschrieben. Ich habe nie das geschrieben, was ich im Hinterkopf hatte. Warum bloß war das so schwer? Vielleicht weil ich meinen eigenen Gedanken nicht vertraut habe?Vielleicht ist das eine Fähigkeit, die man lernen muss? Die eigenen Gedanken hören, verstehen und danach handeln?

Aber nun funktionierte das. Ich habe gelernt, einen Plan im Kopf zu entwerfen. Auch wenn ich immer Schritt für Schritt weiter gegangen bin, stand doch das oberste Ziel schon fest: Eine Geschichte über einen Zeitreisenden und Veronikas Abenteuer. Die beiden Ideen wollte ich verbinden zu einem langen Fortsetzungsroman. Zumindest am Ende des ersten Teils sollte es eine echte Zeitmaschine geben oder zumindest ein Raumschiff und eine neu gegründete Akademie.

Ich hab fast 200 Seiten jetzt. Ich habe das ganze Jahr daran gearbeitet, außer am Anfang des Jahres, wo ich im Krankenhaus war und mich darauf konzentrieren musste, nicht schon wieder beinahe zu sterben. Mir fehlen nur noch wenige Kapitel. Es werden vielleicht noch 50 Seiten mehr. Ich habe auch wieder angefangen, zu recherchieren. Ich habe endlich die Struktur für einen Artikel, den ich schreiben will. Meine Gesundheit ist schwankend.

Ich glaube, dass ich eine Allergie gegen das Kontrastmittel entwickelt habe, dass sich bei diversen Untersuchungen in meinem Knochen eingelagert haben könnte. Zumindest hat man mir das damals so erklärt. Wenn man vor der Knochen-Szintigrafie schon Arthrose hatte, dann lagert sich das Kontrastmittel in den Lücken ab, die im Knochen sind, anstatt Kalzium. Die Frage ist, wie bekomme ich das da wieder heraus? Ich dachte zwar, dass man das sofort merkt, wenn man dagegen allergisch wäre, aber wer weiß das schon. Gegen das CT-Kontrastmittel war ich jedenfalls allergisch. Vielleicht sind es ähnliche Stoffe. Daher die schlimmere Arthrose. Es ist nicht mehr einfach nur Verschleiß, sondern eine ernsthafte Nebenwirkung der Krebstherapie. Aber wenn man aus der Chemo raus ist, dann interessiert sich niemand mehr für die Nebenwirkungen, die man hat. Manchmal hasse ich diese verfickte Welt.

Meine Geschichte war als Ablenkung gedacht. Aber nun werde ich da ein richtiges Produkt draus machen. Einen Roman, den man in die Hand nehmen kann und den dann vielleicht niemand liest. Übung 46 und 47 in der 47 Kalenderwoche. Vielleicht schaffe ich diese Woche noch mehr Kapitel. Dann kann ich früher mit der Überarbeitung anfangen.

 

Übung 46
Schwierige Geschichte

Der Oktopuskönig zog sich in seine Behausung zurück. Das war eine Höhle, die auf dem Meeresgrund in einen Felsen geschlagen war. Melli hatte gerade ihre Seele wiedergefunden. Sie hatte erfahren, dass sie gar nicht umgebracht worden war, sondern noch lebte. Sie gehörte keinesfalls in diese merkwürdige Zwischenwelt, die zur Kultur der Echsenwesen zu gehören schien. Sie wollte forschen. Sie wollte diese kleinen Wesen erforschen, die sie so sehr an die Meerjungfrauen aus den Märchen ihrer Kindheit erinnerten. Aber Dr. Baila quälte diese Wesen, zerstückelte sie und stellte eine Essens aus ihnen her, was für sich allein schon ekelhaft und abscheulich genug war. Noch viel Schlimmer war aber, dass sie Melli dieses Mittel ohne ihr Einverständlich zwangsweise eingeflößt und ihren Körper damit verseucht hatte.

Sicher, sie liebte Meerjungfrauengeschichten. Als Kind hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal eine zu sein. Aber nicht so. Nicht auf Kosten anderer. Nicht indem ihr die Essens gequälter Wesen eingeflößt wurde! Wie sehr beneidete sie Robert. Er war durch die starken Tentakel und die genetische Tinte des Oktopus verwandelt worden. An ihm klebte nicht der Makel der Folter und Verstümmelung.

Ja, sicher, sie war nun zusammen mit dem Mann ihrer Träume. Sie war frei, denn sie lebte im Meer. Und sie war eine Meerjungfrau, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Wie viele Nächte hatte sie inbrünstig darum gebetet, dass genau das passiert? Wurde sie so vom Leben bestraft? Wurde ihr nun gezeigt, wie dumm und selbstherrlich ihre Wünsche damals waren? Das waren doch längst vergessene Zeiten!

Sie hatte das Ziel ihrer Kindheit erreicht. Die Welt der Menschen zu verlassen und unten im Meer bei den Fischen zu leben. Darüber freuen konnte sie sich aber nicht, denn die schrecklichen Bilder aus dem Video in dem geheimen Labor kamen ihr immer wieder in den Sinn. Diese Grausamkeit, die Kälte, das nagte an ihrer Seele. Sie konnte keine Ruhe finden, sie konnte nicht schlafen.

Und sie begann sich zu fragen, wie lange sie verflucht war, auf diese Weise zu existieren. Würde sie die grausamen Bilder niemals vergessen können oder würden sie eines Tages verblassen?

Robert hatte sie gefunden. Er hatte die Türen des U-Bootes aufgebrochen und sie herausgeholt. Sie war nicht ohnmächtig, sie war melancholisch. Todtraurig ließ sie sich hängen, gab sich auf, bewegte sich nicht mehr und starrte immerzu auf einen fernen Punkt an der Wasseroberfläche. Da glänzte etwas und schien sie zu rufen. Aber sie würde diesen Ruf niemals wieder beantworten können.

Robert verstand, was mit ihr los war. Jedes mal, wenn sie eines dieser Wesen hier unten herumschwimmen sah, musste sie an das Video denken. Der Film, wie diese Wesen gequält wurde, spielte sich immer wieder vor ihrem inneren Auge ab. Und da sie sich mit Gedankenübertragung verständigten, sahen sie es auch. Sie erschreckten sich und flohen. Darum waren sie bald isoliert.

Sie registrierte deren ängstliche, empörte Blicke, anklagend, fragend. Und Melli konnte es ihnen einfach nicht erklären, weil sie ihre Gedanken nicht so im Griff hatte, wie man es für eine Gedankenübertragung haben muss. Sie wurde zu einer Aussätzigen.

Dann kam das, was noch schrecklicher war. Die Erinnerung an das, was ihr passiert war. Sie sah sich immer wieder selbst da sitzen, wie die beiden Typen ihr die Kleider vom Leib rissen und ihr die Injektion gaben. Die dämlichen Kommentare, den Spott. Ihr eigenes, hilfloses Gesicht. Die Tränen, ihre eigenen Hilfeschreie, die ungehört verhallten.
Sie hätte sich nie träumen lassen, dass ihr Gesicht das Gesicht eines Opfers war. Einer Wissenschaftlerin ja, einer Wissenschaftsjournalistin, einer Buchautorin, einer Ozeanforscherin, einer großartigen Meeresbiologin, wenn sie eines Tages ihr Studium beendet hätte. Aber das Gesicht eines Opfers? Nein, niemals!

Und die Verwandlung. Wie ihre Beine sich zurückbildeten und schließlich zusammenwuchsen. Es war so abartig, sich daran zu erinnern. Immer und immer wieder. Sie konnte sich nicht an die Sache selbst erinnern, sondern nur an das Video, dass sie in Bailas geheimen Labor abgespielt hatte. Ihren Schreien nach zu urteilen war es ein sehr schmerzhafter Prozess. Das war der Schmerz, den sie tief in ihrer Seele begraben hatte.

Erinnerungen an ein Video und vergessene Schmerzen. Das Leben einer Außenseiterin. Die Unfähigkeit, sich klar zu verständigen. Damit musste sie nun klar kommen. Jeden verdammten Tag. Und das Wasser war so kalt. Die Sicht war so trüb. Und die Verwandlung war nicht so gut gelungen, dass ihre Augen von dem ständigen Kontakt mit dem Wasser nicht rot wurden. Sie musste Algen und Seetang essen, sammelte kleine Schnecken von Steinen und kaute auf Korallenstücken. Nichts schmeckte ihr. Nichts machte sie glücklich.

Robert hatte sehr schnell eine kleine Höhle entdeckt. Er dekorierte sie liebevoll und brachte Melli dorthin. Sie konnten nicht miteinander reden, wie sie es gewohnt waren. Also schaute Robert ihr die meiste Zeit über nur sehr tief in die Augen. In der Höhle war eine heiße Quelle, die von einem Vulkan gespeist wurde. Melli versuchte sich daran zu wärmen, aber nichts half ihr, die innere Kälte zu überwinden.

Die Melancholie wechselte sich ab mit unbändiger Wut. In diesen Zeiten brüllte sie ins Wasser. Jeder hier, selbst die Fische, gingen ihr dann aus dem Weg. Es gab Zeiten, in denen sie die Nahrung verweigerte. Es gab Zeiten, in denen sie den Wesen hinterherjagte und sie anbrüllte, in der Hoffnung, sie würden endlich verstehen. Ihre Haare wuchsen noch normal, als wäre sie ein Mensch, aber sie konnte sie hier nicht pflegen, also verfilzten sie sehr schnell. Bald sah ihr Kopf aus, als würden Dutzende unterschiedlich große Wasserschlangen aus ihrer Kopfhaut spießen. Die Form ihrer Haare lockte tatsächlich Wasserschlangen, Aale und Muränen an, die während ihrer Paarungszeit um ihren Kopf herumschwammen. Das machte sie nur noch aggressiver.

Eines Tages kam der Oktopuskönig in ihre Höhle. Robert hatte Nahrung gesammelt, die vor ihm auf einem Stein lag. Er saß wie immer ratlos davor, weil er nicht wusste, was er noch tun sollte. Wie sollte er den Schmerz seiner Freundin mildern? Es wurde von Tag zu Tag nur schlimmer. Sie schien den Verstand zu verlieren. Murena und die anderen Praktikanten hatten sich hingegen gut eingelebt.

Melli saß auf dem Boden und umklammerte ihren eigenen Brustkorb mit einer weiten Umarmung. Unverständliches Zeug brabbelnd wiegte sie sich hin und her. Robert erschrak, als er den Oktopus sah. Er war so groß und Robert hatte nicht vergessen, was er getan hatte. Er spürte die Tentakel immer noch in seinen Ohren, seinem Mund, auf seiner Haut. Er erinnerte sich an den Geschmack dieser Tinte. Er wunderte sich jeden Tag mehr darüber, warum es ihm nicht genauso schlecht ging, wie Melli. Warum ging es ihm besser? Wenn er sich verwandelt worden wäre, dann wäre er ertrunken. War das der Grund? Er wusste es nicht. Aber er passte sich einfach an. Er sammelte Nahrung, er erkundete die Gegend, baute an ihrem gemeinsamen zu Hause, lernte zu kommunizieren. Er wollte es Melli beibringen, aber er spürte jeden Tag, dass sie anders war, als er. Sie war gefangen in ihrem Schmerz und konnte sich einfach nicht daraus befreien. Ob sie ihn vermisste? Diesen John? Wenn er hier wäre, wäre John dann in der Lage gewesen, Melli zu beruhigen? Robert bezweifelte es. Aber er war sich nicht sicher. Und genau das beschwerte ihm schlaflose Nächte. Nun kam der Oktopus durch den Eingang der Höhle und schaute sich neugierig um. Robert verstand ihn. Er hörte seine Gedanken, auch wenn es keine Worte waren, sondern vielmehr Gefühle. In diesem Fall waren es Gefühle der Bewunderung, aber auch des Neids.
Robert konnte jede Nuance seines Wesens verstehen. Der König kam, um ihm einen Vorschlag zu machen. Er verstand. Robert nickte. Sie waren sich einig. Der Oktopus näherte sich Melli vorsichtig. Sie stoppte ihr Gebrabbel, bei denen hunderte Blasen aufstiegen und starrte ihn an. Verstand sie es? Sie nickte. Die Tentakel bewegten sich auf sie zu. Sie schloss die Augen. Vielleicht würde danach alles besser werden. Robert wusste nicht, was der Oktopus ihr versprochen hatte, aber er verwandelte sie abermals. Er hatte Gene für sie gesammelt, die ihr helfen sollten, zu vergessen, dass sie aus dem Leid anderer Lebewesen entstanden war. Gene, die ihr helfen sollten, besser im Meer zurecht zu kommen, oder aber wieder an Land zu gehen. Die Gabe der willentlichen Metamorphose. Gleichzeitig versuchte er mit seinen Saugnäpfen die Gene der gequälten Seelen aus ihrem Körper zu saugen. Diesmal fühlte sie den Schmerz. Doch es war heilsamer Schmerz.

Die Reinigung dauerte drei Tage. Jeden Tag besuchte der Oktopus sie in ihrer Höhle, saugte ihr die Essenz des Todes heraus und gab ihr neue Gene. Die Essens gab er seinen Wesen zurück, die immer zahlreicher wurden. Die Blicke, die ihnen begegneten, wenn sie durch den Ozean schwammen, wechselten sich von ängstlich zu dankbar. Robert kam es so vor, als würde er in vielen dieser kleinen blauen Gesichert plötzlich das Gesicht von Melli entdecken. Sie fing wieder an, etwas zu essen. Sie verließ die Höhle und schwamm herum. Mit jeder Sitzung wurde sie glücklicher. Es war so, als hätte man eine unglaubliche Last von ihren Schultern genommen.

Auch die anderen von Baila veränderten Menschen bekamen vorsorglich die gleiche Behandlung. Er konnte ihnen die fehlenden Menschengene nicht zurück geben, denn er besaß nur die Gene, die er zuvor mit der Nahrung aufgenommen hatte, aber er musste die Lücke mit irgendetwas ersetzen. Also kletterte er an Land und fing Landwesen. Er erinnerte sich daran, dass er vor der Geburt der Noonas Molche und Blindschleichen gefressen hatte. Nun machte er Jagd auf Eidechsen. Es gab nicht viel Land zu dieser Zeit, nur einzelne winzige Inseln, zu klein, um sie vom Weltall aus erkennen zu können. So klein, dass sie auf keiner Karte verzeichnet waren, die Dr. Baila besaß. Ein Dutzend ungefähr, über den gesamten Planeten verstreut. Es gab Vögel dort, Schildkröten, Insekten, Spinnen, Eidechsen und Schweine. Die hatten starke Beine. Die Noonas nutzten die Inseln, um ihrerseits ihre Metamorphose zu trainieren. Sie konnten sich nur ohne Wasser in Wesen mit Beinen verwandeln. Das hatte er damals so für richtig gehalten.

Am Ende der drei Tage gab der Oktopus zu verstehen, dass Melli die Verwandlung üben sollte. Er versammelte alle Menschenkinder um sich und brachte es ihnen allen bei. Langsam lernten sie, wie sie die Kraft der Metamorphose kontrollieren konnten. Und auch die Kraft der Gedankenübertragung übte er mit ihnen. Es war eine harte Zeit, in der sie viel lernte. Sie wurde von einem Opfer wieder zu einem Mensch. Zumindest fing sie wieder an, sich so zu fühlen. Sie musste während dieser Zeit immer wieder an John denken. Wie schlimm muss es für ihn damals gewesen sein, seinen eigenen Körper in diesem Zustand zu sehen? Gelähmt von der Injektion, die sein eigener Mentor ihm verabreicht hatte. Auch Dr. Baila hätte eine Mentorin für Melli sein müssen. All diese Lügen, all das Leid, dass diese beiden Menschen angerichtet hatten.

Am Ende dieser Zeit zeigte ihr der Oktopus sein Quartier. Sie standen gemeinsam vor dem Steinregal, dass Robert für ihn angefertigt hatte. Der Oktopus zeigte ihr ein Gefäß, dass er im Sand holte. Er hielt es ihr vor die Nase. Es glühte grünlich. Innen drin befand sich etwas, dessen Puls Melli spüren konnte. Dann hörte sie seine Worte laut und deutlich in ihrem Kopf:
„Das ist sie. Die Seele derjenigen, die dir und den anderen das angetan hat. Ich werde sie niemals wieder rauslassen.“

Melli konnte es zuerst nicht verstehen. Doch es ließ sie nicht mehr los. Der Gedanke, dass die Seele, der Person, die ihr das alles angetan hatte, gleich dort in einem Regal stand, ließ sie abermals nicht schlafen. Etwas Böses ging davon aus, dass selbst aus der Ferne noch nach ihrer Kehle griff und fest zudrückte. Sie erzählte es Robert. Denn eines hatte sie gelernt, auf ihn konnte sie zählen. Er war für sie dagewesen in einer Zeit, in der sie nicht für sich selbst sorgen konnte. Gemeinsam beschlossen sie, diesem Fluch ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Zusammen mit den anderen Studenten von der Forschungsinsel stahlen sie eines Tages die grüne Flasche und wanderten zu dem größten und gefährlichsten der vielen Vulkane auf diesem Planeten. Dort vollzogen sie endgültig das Ritual der Reinigung. Als sie dort am Rande des Vulkans stand und in die Tiefe blickte, war ihr zum ersten mal nicht kalt. Jeder von ihnen dachte daran, was Dr. Baila ihnen angetan hatte. Sie formulierten es in ihren Gedanken, so dass die anderen es hören konnten. Dann tauschten sie Blicke aus. Melli warf die Flasche in den Vulkanschlot. Sie hörte einen gellen Schrei in ihrem Kopf, der sie zutiefst erschreckte. Dann fühlte sie sich plötzlich unendlich frei. Zuerst passierte gar nichts, doch dann fing der Vulkan an zu vibrieren. Sekunden später begriffen sie, was sie getan hatten.
„Wir müssen hier verschwinden!“, rief Robert. Sie flüchteten auf eine der Inseln, wie sie es sich vorgenommen hatten. Fast wie normale Menschen sahen sie aus, mit ihren neu zurück gewonnenen Beinen. Dort standen sie und starrten hilflos und geschockt auf die brodelnde Wasseroberfläche.

 

Übung 47

Als der Vulkan ausbrach

Dr. Baila rannte durch die leergefegten Gänge der Forschungsinsel. Sie sammelte ihre Geräte und ihre Proben ein, so viele sie greifen konnte und brachte sie in den Bunker. Das war ein extra verstärkter Raum für den Fall, dass der Planet von Naturkatastrophen heimgesucht werden würde. Sie wusste nicht, was sich da zusammenbraute, aber der Alarm war losgegangen, bevor die Hälfte aller Geräte ausfiel. Das Funkgerät spielte verrückt. Ein grässliches Fiepen bereitete ihr Ohrschmerzen, also warf sie das Gerät kurzerhand auf die Erde, wo es zerschellte. Sie hatte den Oktopus überlebt und sie würde auch dies überleben. Eine schlichte Naturkatastrophe würde sie nicht dahinraffen. Das war lächerlich. Sie schloss die feste Eisentür hinter sich und schaltete den Überwachungsmonitor ein. Die Wasseroberfläche schien zu kochen. War es nur ein Erdbeben oder war es ein Vulkanausbruch? War die Stabilität der Insel gefährdet? Bald würde sie es wissen.

Es war unglaublich, was sie dann erlebte. Das Wasser brach auf und eine Fontäne aus Feuer und Lava sprudelte heraus, fast 100 Meter hoch. Felsbrocken flogen durch die Luft und sorgten für Flutwellen, als sie wieder auf die Wasseroberfläche aufschlugen. Es gab einen großen Knall, eine Erschütterung, die Dr. Baila aus dem Stuhl fegte. Das Echo hallte in den Metallwänden der Forschungsinsel wieder. Alles vibrierte. Die Insel wackelte, eine Seite der Stützpfeiler sank tiefer in den Sand! Nun war alles schief. Dr. Baila hoffte, dass die Insel dem Stand halten würde. Es gab noch einige Einschläge. Die Überwachungskamera und der Strom fielen aus. Es wurde dunkel. Der Notfall-Generator rührte sich nicht. Dann war alles still.

Vorsichtig öffnete sie die Tür. Die Insel schien so weit intakt zu sein, nur etwas schief. Dr. Baila lief zum nächsten Fenster. Sie konnte es nicht glauben! Sie hatte sich das von Anfang an so ersehnt, was sie nun sah. Da war Land! Endlich! Der Vulkanausbruch hatte einen Kontinent geformt! Über die Jahrhunderte würden sich dort Pflanzen und Tiere ansiedeln. Was sie hier miterleben konnte war eine echte Evolution! Natürlich nur, wenn sie so lange Leben würde. Sie fragte sich, warum sie nicht schon früher daran gedacht hatte. Sie war Genetikerin. Sie war fähig, ihre Lebenserwartung zu steigern. Sie musste nur die richtige Probe dafür finden.

Ihr waren einige Proben geblieben und acht lebendige Versuchstiere. In den Monaten, in denen Dr. Baila an einer lebensverlängernden Tinktur forschte, sendete sie regelmäßig die Tauchroboter auf die entstandene Felseninsel. Einer der Felsen ragte hoch in die Luft, wie ein Arm, der nach etwas zu greifen schien. Auf einem der Bilder, den die Roboter lieferten, entdeckte sie etwas seltsames. Der Felsen schien sich zu verändern. Es entstand am obersten Ende ein Hohlraum. Untersuchungen der Proben ergaben, dass es sich überwiegend um Bimsstein handelte. Aber auch der würde nicht so leicht durch die Witterung zerfallen. Sie entdeckte überall diese Veränderungen. Ehemals massiver Bimsstein bekam Hohlräume, ja es bildeten sich Gänge, sowohl über dem Meeresspiegel, als auch unter Wasser. Dr. Baila vermutete bald eine Art Steinwurm, einen Parasiten, der seine Gänge in Stein bohren konnte und machte sich daran, ein Exemplar zu fangen! Ein paar Wochen später gab es hunderte Kilometerlange Gänge, in denen die Roboter über Stunden unterwegs waren. Doch niemals sah sie darin ein Lebewesen. Also gab sie es irgendwann auf.

Die Roboter sammelten Proben von allerhand seltsamen Kristallen. Diese pulsierten, als wären sie am Leben. Dr. Baila hatte sie schon in allen möglichen Farben. Die mit der gleiche Farbe bewahrte sie in dem selben Behälter auf. Eines Tages entdeckte sie, dass sich die kleinen Proben zu größeren Klumpen verbanden. Und drei Tage später war es nur noch ein einziger Klumpen. Dieser Klumpen schien außerdem seine Position zu verlassen und im Probenglas hin und her zu wandern. Sie wiederholte die Messungen ein Dutzend mal. Sie hatten sich bewegt. Das war klar. Waren das mineralische Lebewesen? Als Entdeckerin der ersten mineralischen Lebensform würde sie den Nobelpreis bekommen!

Voller Ehrgeiz und Eifer machte sie sich daran, das Funkgerät wieder zu reparieren. Der Generator funktionierte ebenfalls nicht und die Lebensmittelvorräte waren in dem Teil der Forschungsinsel, der komplett unter Wasser stand. Offenbar war durch den Vulkanausbruch der Wasserspiegel leicht angestiegen oder aber die ganze Insel war tiefer in den Sand gerutscht. Vielleicht gab es diese Gänge auch im Meeresboden und irgendwann würde die schwere Forschungsinsel in so ein unterirdisches Tunnelsystem einbrechen! Aber zuerst musste sie sich um das Nahrungsproblem kümmern. Also fing sie an, Zellhaufen zu züchten, die sie als provisorische Nahrungsquelle nutzen konnte. Sie stattete die Tauchroboter mit Netzen aus und lies sie Fische fangen. Mit ihren Forschungen zur Lebensverlängerung kam sie nicht wirklich weiter.

Eines Tages sah sie Vögel. Sie hatte auf diesem Planeten noch niemals Vögel gesehen. So schnell funktionierte Evolution nicht. Was war hier los? Hatte sie beim scannen und kartografieren des Planeten etwa Landmassen übersehen? Der Scanner war kaputt. Sie schaffte es mit Mühe und Not, die Temperatur im Inkubator halbwegs konstant zu halten und benutzte zur Nahrungszubereitung einen alten Bunsenbrenner. Immer wieder entstanden neue Probleme und sie kam einfach nicht weiter. Zum Glück funktionierten die Roboter noch, aber auch der Strom in den Akkus der Ladestation, die unter Wasser stand, würde irgendwann aufgebraucht sein. In der fünften Woche nach dem Vulkanausbruch gab es einen Ruck, der Dr. Baila aus dem Schlaf riss. Sie hatte sich in der Ecke des Bunkers einen Schlafplatz aus Notfalldecken gebaut. Erschrocken und hellwach lief sie nach draußen. Oh nein! Die Insel war noch ein Stück nach unten gerutscht. Jetzt konnte sie nirgendwo mehr hin, außer in den Bunker. Sie war überzeugt, dass die Insel bald ganz versinken würde. Sie musste etwas unternehmen. Sie musste hier raus, ihre Forschungsinsel verlassen! Sie musste sich irgendwo auf dem Kontinent ein neues Labor bauen! Sie nahm das Fernrohr und beobachtete einen riesigen Vogel, der sich in dem langen Felsen ein Nest gebaut hatte. Der Felsen schien stabil. Das war die Lösung. Dort würde sie ihr neues Labor bauen. Doch wie würde sie alle ihre Geräte und den defekten Generator dort hinbekommen? Melli hatte das U-Boot genommen.

Für den Augenblick einer Millisekunde wünschte Dr. Baila sich, sie wäre unendlich stark wie dieser Vogel, der zum Nestbau ganze Bäume ausgerissen hatte. Starke Krallen und große Flügel, mit der sie den ganzen Planeten erkunden konnte. Doch das war sinnlos. Derartige Genproben besaß sie nicht. Sie besaß auch keine Flugroboter. Wäre es nicht besser, sich ebenfalls in ein Unterwasserwesen zu verwandeln? Nur viel mächtiger, als diese kleinen fipsigen Wesen. So mächtig wie der Oktopus. Wie viele Experimente konnte sie wohl mit acht Armen gleichzeitig durchführen? Wie auch immer. Sie war keine Ingenieurin und sich genetisch zu verwandeln löste ihr Stromproblem auch nicht.

Sie starrte auf die acht pulsierenden Kristalle in den Gläsern. Schwarz, weis, rot, orange, gelb, grün, blau und violett. Sie schienen ihren Gedanken zuzuhören und sie zu beobachten. Oder bildete sie sich das nur ein? Wurde sie nun verrückt? Plötzlich geschah etwas merkwürdiges. Ihr altes Notebook, dessen Akku schon lange leer war, startete sich von selbst und ging gleich darauf wieder aus. Der gelbe Kristall in dem Behälter dahinter fing an zu pulsieren. Waren die Kristalle Stromquellen? Mit der Aussicht auf eine mobile Stromquelle konnte sie ihr Labor bauen, wo auch immer es ihr gefiel. Und die Gene dieses Vogels konnte sie sich besorgen. Sie hatte ihre Tauchroboter ja schon mit Netzen ausgestattet. Alles, was sie brauchte, war ein anständiger Köder. Eine einzige Feder mit genügend Genmaterial daran, würde auch ausreichen! Voller Eifer machte sie sich daran, einen der Roboter umzuprogrammieren. Das war noch nicht die Zeit, aufzugeben. Sie war nicht zum aufgeben auf diesen Planeten gekommen, sondern um hier etwas zu bewirken. Etwas, was größer war, als sie selbst, ja, größer, als die gesamte Menschheit. Sie würde nicht nur sich selbst, sondern auch das Leben und die Menschheit neu erfinden.

Ein paar Wochen später war es soweit. Der Generator lief mit Hilfe eines großen gelben Kristalls. Die Essenz war fertig. Die schwere Forschungsinsel war noch weiter ins Meer abgesackt. Nahrung gab es genug, weil ein großes Fischsterben begonnen hatte. Es war nicht nur so, dass die Insel in einem löchrigen Untergrund versank, sondern Dr. Baila hatte auch übersehen, dass die Wassertemperatur stark anstieg und darum die Polkappen schmolzen. Der Meeresspiegel stieg darum und würde immer weiter steigen. Die Forschungsinsel würde über kurz oder lang ganz im Meer versinken. Darum hatte sie eine Genprobe des Oktopusstentakels, dass sie ihm bei ihrem Kampf abgeschlagen hatte mit den Genen von der Feder des riesigen Vogels zu einer Tinktur vermengt. So würde sie fähig sein, über das Wasser zu ihrem neuen Versteck zu fliegen und auch unter Wasser wertvolle Teile ihrer Ausrüstung zu bergen. Sie atmete tief ein und aus. Dann gab sie sich die Injektion. Sie hatte sie – anders als bei Mellis Verwandlung – mit einen Betäubungsmittel versetzt.

Als sie wieder zu sich kam, war alles schon geschehen. Statt Füßen hatte sie riesige Krallen, auf dem Rücken spürte sie ihre riesigen mächtigen Flügel, ihr Körper war zur Hälfte mit Federn bedeckt, zu anderen Hälfte nackt. In ihrem Gesicht fühlte sie zu ihrem Entsetzen einen monströsen hässlichen Schnabel. Voller Abscheu schrie sie los, doch das Geräusch, was sich aus ihrer Kehle löste, lies sie sogleich wieder verstummen. War das etwa ihr neues Leben? Sie brachte keinen einzigen anständigen menschlichen Ton mehr heraus, nur ein grausiges Gekrächzte. Sie war kein Mensch mehr.

Die Regierung der Menschen auf der Erde wunderte sich darüber, dass der Funkkontakt zur Forschungskolonie abgebrochen war. Die Wissenschaftler sprachen von einem größerem Vulkanausbruch. Also entschied man sich, eine Delegation zu senden. Milva Rosenstock hatte gerade ihr Studium beendet und war die vielversprechendste Kandidatin, um die umstrittene Dr. Baila abzulösen. Sie stand am Anfang ihrer Karriere, war genauso vielseitig wie Baila, aber noch formbar, weil sie so jung und in ihren Ansichten noch nicht so festgefahren war. Unter der Aufsicht von Baila waren Menschen verschwunden! Trotz ihrer enormen Leistungen war sie als Leiterin des Projektes einfach nicht mehr tragbar. Rosenstock wurde von Regierungsbeamten und Funktionären begleitet, die über die weitere Finanzierung des Projektes entscheiden sollten. Die Regierung konnte es sich nicht mehr leisten, Forschungsgelder zu verwenden, seit dem Dr. Baila in den Verdacht geraten war, Praktikanten verschwinden zu lassen. Es gab Gerüchte, dass sie sie für ihre eigenen illegalen Forschungsprojekte missbraucht hatte.

Als die Fähre sich dem Forschungsplaneten näherte, fragte einer der Funktionäre plötzlich: „Sollte das nicht eigentlich ein Forschungsplanet sein?“

Deutlich war eine größere Landmasse und eine Ansammlung unzähliger kleiner Inseln zu erkennen. Als sie näher kamen, sahen sie, dass die Forschungsinsel nur noch einen Meter aus dem Wasser ragte. Die Andockstation war geflutet. Von Dr. Baila keine Spur.

„Oh, mein Gott! Wir müssen eine Rettungsmannschaft senden!“, sagte der Regierungsbeamte.

Milva Rosenstock scannte das Gebäude. „Zu spät. Ich kann keine Lebenszeichen mehr feststellen, es tut mir leid“

„Können sie sich nicht auf die Landmasse gerettet haben?“, fragte er.

„Es gibt dort unzählige Lebensformen, ich kann unmöglich sagen, ob einige davon menschlich sind!“

„Wir landen dort und schauen nach“

Als sie die Fähre verließen, waren sie verwundert, wieviele Pflanzen sich schon auf diesem Felsen breit gemacht hatten. Kleine Mischwälder waren entstanden, in denen allerlei Tiere zu finden waren. Auffällig war, wie viele Schweine und Vögel es hier gab, auch Amphibien waren sehr häufig.

„Irgendetwas menschliches?“, fragte der Beamte.

Milva starrte auf ihren Scanner. Die Anzeige war merkwürdig.

„So etwas habe ich noch nie gesehen. Es scheint eine Schimäre zu sein. Das ist bemerkenswert!“

In diesem Moment kam ein riesiger Vogel angeflogen. Milva meinte ein Gesicht erkannt zu haben. Dann griff der Vogel sie mit seinen riesigen Klauen und trug sie in das Nest. Die Regierungsbeamten und Funktionäre rannten verschreckt zur Fähre, die sofort wieder startete. Der Planet wurde aufgegeben. Es gab für dieses Projekt keine Sponsoren mehr.