Wenn es wirklich so ist, dass sich immer wieder etwas krankhaftes in meinem Körper festsetzt, dann muss ich viele meiner naiven Gedanken aufgeben, die ich seit meiner Kindheit mit mir herumschleppe. Und zwar naive Gedanken darüber, wie meine Zukunft irgendwann mal aussehen könnte. Wie sie hätte aussehen können, wenn alles anders gewesen wäre oder wie sie trotzdem noch mal aussehen könnte, wenn ich denn nun endlich mal die Kurve kriegen würde. Langsam muss ich begreifen, es wird nicht passieren. Vielleicht soll es auch nicht passieren. Vielleicht bin ich das einfach nicht.
Das, was ich jetzt habe, ist das, was ich kriege und mehr ist nicht drin. Ich muss etwas aus dem machen, was ich habe, denn sonst kommt da nichts mehr dazu. Es ist alles, was für mich vorgesehen ist. Selbst wenn man mich in eine andere Umgebung setzen würde, wenn man den Krebs ganz aus meinen Gedanken löschen würde, mich in so eine traumhafte Umgebung setzen würde, dann würde ich mich da vermutlich auch nicht zu Hause fühlen. Es ist die fremde, schöne Welt in meinem Kopf, die ich gewohnt bin, mir vorzustellen, wenn mich die Sehnsucht packt oder ich mich trösten will. Aber es ist nicht die Realität und wird auch niemals die Realität sein.
Ich hab mich schon oft gesehen als Hausbesitzerin mit einem großen Grundstück, dass ich naturnah gestalte. Jeder Baum und jeder Strauch steht auf seinem von mir vorbestimmten Platz. Obstbäume, Nussbäume, Beerensträucher, ein kleiner Mischwald mit Eichhörnchen, blühende Blumenwiesen und ein Gemüsegarten. Die fünf pyrenäen Berghunde lilegen auf der Lauer und verscheuchen Einbrecher. Vielleicht habe ich einige Schafe und sogar Ziegen und mache mir meine eigenen Schafwolldecken und Schafskäse bzw. Ziegenkäse. Vielleicht sind da auch Angora-Kaninchen, vielleicht züchte ich Rebhühner oder Fasane, die ich dann auswildere. Das ist dann allerdings schon viel mehr Arbeit, als ich alleine bewältigen könnte, woran man sieht, dass es sich um unrealistische Wunschträume handelt. Es ist nicht und wird niemals die Realität werden. Nicht mehr in diesem Leben.
Das Haus ist groß und energiesparend gebaut oder renoviert worden. Die Wände und Fensterbänke sind mit Lehm verkleidet, statt mit Asbest und Formaldehyd. Das Abwasser kommt in den Klärteich, in denen Schnecken, Frösche und Fische sich tummeln. Vielleicht sind mir sogar ein paar Wildenten, Schwäne oder andere Vögel zugeflogen. Der Klärteich ist groß. In der Mitte ist eine Insel mit einem Baum. Ich habe ein kleines Ruderboot, mit dem ich auf die Insel fahren kann. Dort steht ein kleiner Pavillion, in dem ich sitzen kann, um ein Buch zu lesen. In meinem Garten blüht jeden Monat irgendetwas. Ich habe genug Futter für Schmetterlinge, Bienen und Vögel. Wer in meinen Garten kommt, der glaubt, er hätte sich in einen botanischen Garten oder einen Tierpark verirrt.
Wenn ich mir das vorstelle, dann bin ich in meinen Vorstellungen immer draußen. Leute besuchen mich und ich zeige ihnen alles. Im realen Leben sitze ich meistens an meinem PC. So gehen halt Vorstellungen und Realität auseinander. Mir gehört im Grunde nichts. Und wie meine Oma schon sagte: “Man kann von dieser Welt nichts mitnehmen.”
Sie hat sich quer gestellt. Sich geweigert, sich noch therapieren zu lassen. Jahrelang hat man ihr nur Proben aus dem Gesicht geschnitten. Wie sie mir sagte, wahrscheinlich ohne Betäubung. Ihre Nase wollte sie behalten. Der nette Arzt hat ihr vorgeschlagen, eine Chemo zu machen, aber die Nase müsse weg. Das NEIN an ihrem 75 Geburtstag war deutlich. Ich habe gelesen, dass der schwarze Hautkrebs mit einer Impfung schon lange heilbar ist. Und ich frage mich, warum ihr das nie jemand angeboten hat, oder hat sie es am Ende gar nicht verstanden, was man ihr erklärte? Der Krebs wuchs dann langsam in ihre Nase und in ihr Gehirn. Mit 94 Jahren starb sie dann daran. Als sie im Krankenhaus lag, riss sie sich die Schläuche heraus, wollte nicht künstlich ernährt werden. Aber mit uns sprach sie nicht mehr. Sie wollte, das Schluss ist.
Das ist die Frage. Wann gibt man auf? Wann weigert man sich, alles an Therapien, was bisher so erfunden wurde, mitzumachen? Wann weigert man sich, der Spielball von Arztkarrieren und Leitlinien zu werden? Die Umgebung möchte das nicht wissen. Jemand, der von der Therapie davon läuft? So etwas gibt es doch nicht. Das darf nicht sein, das kann nicht sein. Man MUSS entweder dies oder jenes machen. Geht leider nicht anders, das sagt ja die LEITLINIE, von der wir nur abweichen, wenn es uns irgendwie in den Kram passt. Ansonsten dient sie für radikale Therapien als RECHTFERTIGUNG. Radikalste Therapien. Die gibt es genug. Diemeisten Körperteile können teilweise oder ganz aus dem Körper herausgeschnitten werden. Wie es danach weiter geht, darum kümmern sich dann andere.
Wenn der Patient alles mitmacht, aber trotzdem stirbt, dann wird die TAPFERKEIT und der KAMPFESMUT gelobt. Aber wenn der Patient nicht mitmacht und stirbt, dann schüttelt jeder innerlich mit dem Kopf (ich auch, gebe ich zu). Unwillkürlich, obwohl ich es nicht will. Da ist Schadenfreude sogar. Jemand ist abgewichen, hat es anders versucht. Ein Alarm ertönt: “NICHT ERLAUBT, nicht erlaubt!” und der Tod dieser Person dient als MAHNMAL für all die Ungehorsamen. Aber Leute, GEHORSAMKEIT kann genauso töten.
Um noch mal Kinder zu kriegen oder eine Menstruation zu bekommen, bin ich zu alt, wie man mir sagte: “Sie sind ja alt genug”. Aber zum sterben bin ich doch noch zu jung. Also zu jung, um ins Hospiz zu gehen. Oder zu jung für einen Abbruch der Therapie. Da kann man noch eine ganze Menge radikaler Therapien verkraften, in ihrem Alter, wissen sie. Zu jung zum sterben. Zu jung zum weglaufen. Ärzte verfolgen mich seit meiner Kindheit. “Das muss man beobachten”.
Vielleicht sind das naive Gedanken, dass ich versuche, jedes Körperteil, dass der Leitlinie zum Opfer fallen würde, doch noch zu retten. Vielleicht hab ich auch damit Recht. Es ist aber so. Wenn ich mir alles rausnehmen lasse “zur Sicherheit”, was sie rausnehmen wollen, Chemo mache und dann auf irgendeinem anderen Körperteil wieder was wächst, dann ist niemand schuld. Wenn ich mich verweigere und dann auf den geretteten Körperteilen etwas wächst, dann bin ich schuld. Und ich hab auf dieses Spiel mit der Schuld absolut keinen Bock mehr. Ich werde mich nicht mehr von irgendeiner Leitlinie zu etwas verleiten lassen. (Leitlinie = verleiten). In zehn Jahren kann diese ganz anders aussehen. Ich werde mich auch nicht mehr zu therapeutischen Handlungen erpressen lassen. Ich mache nur noch das mit, was ich für sinnvoll halte und was ich ertragen kann. Das ist nicht naiv, das ist pragmatisch.
Ich versuche zu vergessen, dass ich krank bin, ohne es zu verdrängen. Und ich versuche, mit meinen Zielen weiter zu kommen, bevor es mich endgültig dahinrafft. Im Moment ist das meine Website, auf der ich der Welt endlich meine Meinung um die Ohren schlagen möchte. Ich hab so viele Jahre immer nur die Klappe gehalten. Hab nichts verstanden und auch nichts gedacht oder gesagt.
Ich hab die Welt an mich ran kommen lassen. Viel zu nah. Ich hab die Welt in mich hinein kommen lassen und meine eigene Gedankenwelt wurde dadurch verdrängt. Ich möchte mich mit Themen beschäftigen, recherchieren und endlich mehr von der Welt verstehen. Aus einer gewissen sicheren Entfernung. Mit einer sicheren Grenze zwischen mir und ihr. Und dann kommt es aus mir heraus. Keine Körperteile. Nein. Gedanken. Unausgesprochene Gefühle und endlich zu Ende gedachte Gedanken. Denn wenn ich das nicht mache, dann werde ich niemals richtig gesund.