Totalabsturz

Ich hab jetzt nicht mehr Windows 7, sondern Windows 8. Auch nicht das Ideale und die Probleme hören auch mit der Neuinstallation nicht auf. Vielleicht liegt es ja doch am HDMI switch? Manchmal fährt der PC einfach nicht richtig hoch.

Hab meine Texte von der Exil-Woche gesammelt und muss sagen, dass ich mehr hätte schaffen können. Trotzdem bin ich relativ inspiriert zurück gekehrt. Ich hätte schließlich auch weniger schaffen können. Immerhin hab ich mehr geschafft, als normal, auch wenn die Qualität vielleicht nicht immer so ist, wie ich es mir vorstelle. Wie oft muss ich mir noch sagen, dass es sich um eine Rohfassung handelt? Für die richtige Geschichte muss ich dann allerhand Systeme erfinden, damit alles stimmig ist. Es werden wohl mindestens drei, höchstens sieben Teile. Den ersten Teil kann ich auch nicht “Veronika und der Zeitreisende” nennen, da die beiden sich in dem Teil erst noch finden müssen. Bisher sind sie sich nur einmal begegnet.

Meine Beine sind mir nicht abgefallen und ich hab auch schon eine neue Matratze bestellt, da sich heute morgen sichtbar eine tiefe Mulde gebildet hatte, wo ich lag. Nun ist nur noch die Frage, was zuerst ankommt, die Rückenschmerzen oder die Matratze. Außerdem hab ich eine neue Art von Kurkuma-Tee (Kurkuma Chai) gefunden, mit dem man sich goldene Milch herstellen kann und auch neuen Lakritztee (Sterrenmunt) bestellt. Somit werde ich auf jeden Fall über den Winter kommen.

Es wird langsam wieder kalt. Hab meine zweite Decke rausgeholt und die Heizung auf volle Pulle gemacht. In der Kälte aus dem Bett zu kommen, ist nicht mein Fall.

35. Veronikas Missgeschick
Am dritten Tag in der Mine hatte Veronika schon 23 Stücke Silbererz und 34 verschieden große Kristallstücke aus dem Felsen geschlagen. Ihr Vater hatte ihren Namen in das Lohnbuch geschrieben. Veronika konnte nicht viel lesen und schreiben, aber zählen konnte sie bis hundert. Und auch Zahlen lesen. Das musste sie können, weil ihre Mutter sie öfter einkaufen geschickt hatte. War sie mit zu wenig Wechselgeld nach Hause gekommen, setzte es Prügel. Traurig dachte Veronika an ihr ungeborenes Geschwisterchen. Sie würde es holen, wenn es so weit war, denn bei dieser Frau und diesem schrecklichen Vater konnte es nicht bleiben. Umso besser, wenn sie reich war. Die Summe an Gold, die hinter ihrem Namen stand, wurde immer größer. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er von seinem ersten großen Geld als Abenteurer diese Silbermine gekauft hatte. Um eine Goldmine zu kaufen, dafür brauchte man mindestens hundert Diamanten. Er hatte aber gerade mal einen einzigen Diamanten gefunden. Während man Metalle und Kristalle im Felsen fand, waren Diamanten im Wasser zu finden und man musste teure Ausrüstung kaufen, um sie zu finden. Hat man eine eigene Mine reichen Arbeiter, Spitzhacken, eine Waage und Transportmittel. Und natürlich musste man etwas vom Bau von Gerüsten verstehen, da Minen einstürzen und alles unter sich begraben können. Ihr Vater hatte eine Silbermine gekauft, die schon fast ausgebeutet war. Der Besitzer wollte sie loswerden, weil er nach 30 Metern auf ein Höhlensystem gestoßen war. Eigentlich gut, aber es ging dort steil nach unten und wenn man genau hinhörte konnte man das Wasser rauschen hören. Bei dem Versuch, dort unten nach Schätzen zu suchen, hatte er die Hälfte seiner Männer verloren. Die anderen weigerten sich, die Höhle zu betreten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu verkaufen. Doch ihr Vater hatte Glück. Beim Versuch, die Gänge breiter zu machen, stieß er auf Kristalle. Dass war reine Glückssache. Um sich die Mine zu kaufen, hatte er ein richtiges Abenteuer bestehen müssen. Er hatte auf einem großen Schiff angeheuert und dann hatte er im Inselreich mit riesigen Spinnen gekämpft und so eine Prinzessin vor dem sicheren Tod gerettet. Veronika war stolz auf ihren heldenhaften Vater. Eigentlich wollte er sich ein eigenes Schiff kaufen und im Inselreich eine eigene Insel erwerben, um sich dort eine Herberge zu eröffnen und sich nieder zu lassen. Das waren seine Träume. Und Veronika würde ihm nach allen Kräften dabei helfen. Sie wollte tiefer in die Mine, um größere Kristalle zu finden, denn die, die sie gefunden hatte, waren gerade mal groß genug, um zierlichen Schmuck daraus herzustellen. Tags darauf machte ihr Vater sich auf den Weg in die nahegelegene Stadt Shyven. Er sprach davon, mehr Arbeiter zu holen. Veronika wäre zu gerne mitgegangen, aber für Nona wäre der Weg vermutlich zu weit gewesen. Außerdem war sie schon ein besonderes Wesen, das in einer Stadt enorm auffallen würde. Auch wenn sie jetzt fast normal menschlich aussah und ihre Flossen nahezu unsichtbar waren. Da war ja immer noch ihre blaue Haut, die sich je nach Lichtverhältnissen und Temperatur veränderte. Also blieb Veronika bei den vier Arbeitern ihres Vaters. Gleich, als ihr Vater weg war, informierte der Schriftführer, der das Lohnbuch führte, sie darüber, dass er es nicht verantworten konnte, sie in die Mine zu lassen, so lange ihr Vater weg war, denn, wenn ihr etwas passierte, wenn ihr Vater dabei war, dann war das seine Sache, wenn ihr aber etwas passierte, wenn er nicht dabei war, dann würden sich die Tore der Hölle öffnen für denjenigen, der die Verantwortung trug.
Veronika aber wollte unbedingt ihren Vater mit einem noch größeren Stück Kristall überraschen und quengelte so lange, bis man sie in das Zelt schickte und sagte, sie sollte dortbleiben und nicht wieder raus kommen. Beleidigt und voller Frust kauerte Veronika in einer Ecke des Zeltes. Nona schaute sie an. Diese Menschen waren ganz anders, als Nonas. Nonas waren friedfertig, gelassen und zuversichtlich. Nona konnte nicht verstehen, warum es für Veronika so wichtig war, mit ihrer Arbeit weiter zu machen. Es war tatsächlich sehr gefährlich für kleine Menschen, die sie hier Kinder nannten und ihr Vater war der jenige, der sie am besten beschützen konnte. Er war auch der, der am meisten Interesse daran hatte, sie zu beschützen. Die anderen Männer sahen Veronika komisch an, rümpften die Nase, auch wenn sie das gar nicht zu bemerken schien. Nona konnte ihre Gedanken nur allzu deutlich erkennen. Mit jedem Stück wertvollen Metalls, dass Veronika aus dem Felsen schlug und mit jedem Mal, dass ihre Zahl hinter ihrem Namen größer wurde, schauten die Männer sie missgünstiger und neidischer an. Sie bekamen Furcht, dass Veronika ihnen die ganzen guten Stücke vor der Nase wegschnappte. Nona hatte schon vom Neid und Missgunst der Menschen gehört, aber sie hatte es noch nie so hautnah miterlebt. Diese bösen Blicke, das Flüstern. Es war beängstigend. Der Vater hatte gesagt, er würde in zwei Tagen mit neuen Arbeitern wiederkommen. Warum tat er das? Warum holte er noch mehr Menschen hierher, die den Männern ihre Fundstücke vor der Nase wegschnappen konnten? Das würde nur Streit geben. Nona ahnte, dass sich das Ganze schlimm entwickeln würde und schmiedete einen geheimen Notplan. Einen Plan, wie sie mit Veronika entkommen konnte, bevor alles so schlimm wurde. Doch sie wusste, dass Veronika unter normalen Umständen niemals ihren Lohn und ihre kleinen Silberstücke und Kristalle zurücklassen würde. Nein, und ganz besonders würde sie nicht alles Aufgeben und ihren Vater verlassen. Das würde sie niemals. Also musste sie sich eine List einfallen lassen. Sie verstand nun, warum bei den Menschen so viel gelogen wurde. Sie machten es, um mit den starken Emotionen zurechtzukommen, die sie alle mehr oder weniger hatten. Ohne Lügen, ohne Verheimlichung, Beschönigungen der Wahrheit oder Ignorieren der Tatsachen, wären Menschen fast die ganze Zeit unglücklich oder wütend. Also logen sie sich an, um diese Gefühle zu unterdrücken, so lange es ging. Sie würde versuchen, Veronika irgendwie auf den richtigen Weg zu bringen.

„Warum bist du traurig, Veronika? Du kannst doch weiter machen, wenn dein Vater wieder da ist!“
„Das stimmt, aber ich will ihn doch überraschen!“
„Du wirst ihn später überraschen. Du hast viel bessere Augen, als all die Männer.“
„Weißt du, ich stelle mir immer vor, dass er zurückkommt und ich zeige ihm, was ich in der Zwischenzeit gefunden habe. Ich halte in meiner Vorstellung einen riesigen Klumpen Stein in der Hand, in dem mehrere Silberstücke und verschiedenfarbige Kristalle enthalten sind.“
„So etwas hat noch niemand gefunden.“
„Das stimmt. Aber ich will das.“
„Hab doch Geduld, Veronika, es ist sehr gefährlich in der Mine. Das hat dein Vater dir erklärt.“
„Er hat aber nicht gesagt, dass ich nicht weiter machen darf, bevor er ging“
„Aber er hat am Anfang immer wieder gesagt, dass du nicht ohne ihn in die Mine gehen sollst. Und nun ist er nicht da!“
„Ich will, dass es so passiert, wie in meinem Kopf.“
„Veronika. Es ist viel zu gefährlich. Er wird in einem Tag wieder da sein.“
„Du verstehst es nicht. Nur dann, wenn ich diesen Brocken finde, werden wir glücklich.“
„Woher weißt du das, Veronika?“
„Ich hab es gesehen. In meinem Kopf. Ich kann es dir nicht erklären, aber ich hatte diesen Traum und in dem Traum habe ich für einen kurzen Moment die Zukunft gesehen. Ich muss es tun, auch wenn es gefährlich ist. Ich muss diesen Brocken finden, denn alles hängt davon ab, wirklich alles.“
Nona wurde still und nachdenklich. Nonas konnten Gedanken lesen. Ob Menschen die Zukunft lesen konnten? Irgendwelche besonderen Kräfte außer Naturzerstörung und töten könnten sie ja haben. Das wäre sogar logisch.
„Was genau hast du gesehen?“
„Ich kann es schlecht beschreiben, es war nur eine einzige Sekunde, in der ich alles erkannte und verstanden habe, dann war es alles wieder weg.“
„Versuche es.“
„In dem Brocken sind so viele Schätze, dass mein Vater sich sofort ein Schiff kaufen kann. Wenn er länger für sein Ziel braucht, wird die Mine überfallen, wir werden alle getötet und die Mädchen werden entführt.“
„Welche Mädchen? Du meinst wohl die Frauen der Arbeiter?“
„Nein. Ich meine die Mädchen. In meiner Vorstellung habe ich Mädchen gesehen.“
„Aber da kann etwas nicht stimmen. Man würde doch nicht Mädchen in einer Mine arbeiten lassen, wenn es doch so gefährlich ist?“
„Ich weiß es ja auch nicht. Ich weiß nur, dass ich diesen Brocken finden muss.“
„Las uns darüber schlafen und warten, ob du noch einmal etwas träumst.“
Veronika fand, dass es eine gute Idee war. Gleich nachdem eine der Frauen ihnen das Abendessen gebracht hatte, legte sie sich schlafen.

Aber sie träume nichts, denn sie schlief auch gar nicht richtig. Sie wartete, bis sie Nona laut und gleichmäßig atmen hörte. Dann nahm sie eine der Kerzen und schlich sich in die Mine. Sie zog sich die Arbeitskleidung an, die dort auf einem Stapel lag. Die Frauen wuschen sie täglich unten im Fluss und legten sie dann hier zum Trocknen hin. Die Nacht war kalt. Veronika fröstelte. Aber aus dem Minenschacht kam warme Luft nach oben. Sie nahm einen Stapel Kerzen und packte sie in einen Sack. Dann band sie sich ein Seil um den Körper und band sich die Spitzhacke und einen Eimer auf den Rücken. Langsam ließ sie sich den steilen Schacht herunter und zündete eine Kerze nach der anderen an, um sie dann mit flüssigem Wachs auf die Felswände zu kleben. Tiefer und tiefer ging es in den Schacht und je tiefer sie kam, desto heißer wurde die Luft, die aus ihm strömte. Sie würde den Schatz finden, den ihr der Traum gezeigt hatte.

Als Nona erwachte, wollte sie Veronika voller Spannung fragen, was sie geträumt hatte, aber sie lag nicht auf ihrem Fell. Sie war weg. Nona bekam Angst. Hatten die Männer sie etwa heute Nacht weggeholt, um sie zu töten und ihre Funde und ihr Gold unter sich aufzuteilen? Als eine der Frauen das Frühstück brachte, erschrak sie. Sie starrte Nona an und sagte voller Hass:
„Jetzt hat das Biest die Tochter vom Boss gefressen! Kommt alle her, dieses Biest hat sie gefressen!“
Nona hatte nicht erwartet, dass sich das alles so entwickelte. Aber sie bemerkte, dass eine der Kerzen aus dem Zelt fehlte. Da wusste sie es. Sie wusste, dass Veronika sie angelogen hatte und allein in der Mine war. Die Männer und Frauen kamen und zerrten Nona unsanft aus dem Zelt. Sie fesselten sie, weil sie Angst vor ihr hatten und brüllten sie an. Schlimme Dinge brüllten sie.
„Du Monster wirst dich verantworten müssen, wenn der Boss wiederkommt!“
„Wir sollten dich lebendig verbrennen und deine Reste ins Meer werfen als Warnung für Deinesgleichen, niemals jemals an Land zu kriechen!“
Das Lagerfeuer brannte ständig. Aber Nona hatte keine Angst, denn was auch immer für Qualen sie erleiden musste, sie war unsterblich, solange der Oktopus-König lebte. Ihre Seele würde automatisch in der Flasche gesammelt werden oder aber sofort über den Fluss wieder zurück ins Meer gelangen. Darum nutzte sie diese einmalige Gelegenheit, um die Menschen zu studieren. Sie blieb völlig ruhig und hörte sich an, was sie durcheinander brüllten.
Irgendwann schrie einer: „Rechtfertige dich, du Monster!“
Da sagte Nona ganz ruhig: „Veronika ist mit einer Kerze in die Mine gegangen. Sie hatte in einem Traum einen großen Klumpen mit Schätzen gefunden und wollte, dass der Traum wahr wird. Sie hat gewartet, bis ich schlief und ist dann losgegangen. Ihr solltet nachsehen, ob es ihr noch gut geht.“
Die vier Männer und sieben Frauen starrten Nona an.
„Ihr seid doch Freunde, warum bist du nicht mitgegangen, wenn es denn so wäre?“
„Ich habe gesagt, es ist zu gefährlich. Veronika hat nicht auf mich gehört. Sie hat mich angelogen und ist alleine gegangen.“
„Geh in die Mine und schau nach“, befahl einer der Männer einer seiner Frauen. Die machte sich sofort auf den Weg und kam nach einigen Sekunden zurück. Sie brüllte:
„Veronika ist alleine den Schacht herunter gestiegen!“
Nun rannten alle in die Mine und starrten auf das Seil, das hinunter führte, auf die Kerzen, die schon lange abgebrannt waren und auf die Schuhe, die Veronika ausgezogen hatte.
„Mein Gott, sie ist auch noch barfuß da unten!“, sagte eine der Frauen.
„Sie war die ganze Nacht dort unten und die Kerzen sind ihr ausgegangen!“, jammerte eine andere. Denn im Gegensatz zu den Männern, mochten alle Frauen Veronika sehr. Eine der Frauen band schließlich auch Nona los. Die ganze Gruppe stand nun ratlos am Schachtende und keiner sagte etwas, aber alle wussten, dass einer von ihnen dort runter musste. Nona hörte, wie sie darüber nachdachten. Aber diese Menschen hatten Angst vor der Tiefe. Es roch nach Schwefel und Algen. Diesen Geruch kannte Nona.
„Ihr könnt mich an einem Seil runter lassen. Ich werde nach ihr suchen.“
Da sich niemand sonst traute, waren alle einverstanden. Man drückte ihr eine Laterne in die Hand.
„Die brauche ich nicht, ich kann im Dunkeln sehen. Meine Augen werden sich nach einiger Zeit anpassen.“
Sie wussten, dass es stimmt, denn sie hatten die Veränderungen immer wieder staunend miterlebt.
„Veronika kann aber nichts sehen. Nimm sie für sie mit!“
Nona nickte, nahm die schwere Eisenlaterne und die Männer ließen sie den Schacht hinab. Er war wirklich sehr, sehr tief.

36. Der Kampf ums Überleben
Während John unwillkürlich zappelnd am Boden lag und seine Tentakel nicht mehr kontrollieren konnte, schoss Dr. Baila voller Panik immer wieder mit ihrer Impulspistole auf ihn ein. Als sie ihre Munition verschossen hatte, wollte sie sich eine neue Waffe aus ihrem Geheimversteck holen, doch dafür musste sie über die wild zuckenden Tentakel herüber, was im Moment unmöglich war. Sie wollte dieses Ungeheuer, das auch noch reden konnte, endgültig erledigen. Also griff sie nach der Axt hinter dem Notfallfenster und versuchte ihm die Tentakel abzuschlagen.
John bedauerte es. Er bedauerte, dieses mächtige und schöne Wesen in Gefahr gebracht zu haben. Er würde weiterreisen, von Körper zu Körper, aber dieses Wesen würde sterben und mit ihm eine ganze Kultur. Denn die Bevölkerung dieses Planeten lebte unter dem Wasser. Dort lebten sie ihr Leben, dort lebte ihre Kultur. Und alles, was zwischen den Plänen von Dr. Baila und diesen kleinen hilflosen Wesen stand, war der dieser Oktopusmann!
Der Oktopusmann hatte sich bisher zurückgehalten. Er fand es interessant, wie dieses fremde Wesen dachte und was es fühlte. Trotzdem es offenbar ein Landwesen war, empfand es Mitleid mit seiner Art und mit den Nonas. Er schätzte sogar das, was er ihre Kultur nannte. Er wollte ihnen helfen, sie retten und natürlich verhindern, dass diese böse Frau alle seine Freunde zu merkwürdig großen und ungelenken Nonas umwandelte. Und die konnten sich nicht mal mit ihren Gedanken verständigen. Sie brauchten zum reden Luft. Das Wesen hatte sogar seinen Mund zum Sprechen gebracht. Und nun kämpfte es in seinem Namen. Nur leider nicht besonders gut. Er hatte sich das eine Weile angeschaut, weil er etwas über dieses Wesen lernen wollte. Doch nun war es an der Zeit, die Kontrolle wieder zu übernehmen.

Er hatte mit der Zeit viele der Tiere im Meer gefressen. Das war auch seine Art, wie er Merkmale sammelte. Er übernahm die Merkmale einer Kreatur, wenn er genügend davon gefressen hatte. Anders als seine Nonas, die immer gleichbleibend, denn sie fraßen nur Algen, Seegras und ab und zu ein paar Muscheln, Krebse und Schnecken. Wenn sie sich anpassten, dann weil er zuvor die Merkmale in sich aufgenommen hatte. Denn die Nonas waren direkt von ihm anhängig. Er dachte an den Zitteraal, den er mal gefressen hatte. Der hatte ebensolche Impulse versendet und dafür gesorgt, dass er ihn nicht mehr jagte. Diese Landwesen hatten offenbar auch die Angewohnheit, Merkmale anderer Wesen für sich zu nutzen. Sehr interessant. Nur setzten sie dieses Wissen in etwas um, was außerhalb ihres Körpers funktionierte und was sie Technik nannten. Und Waffen gehörten zur Technik.

Nun musste er etwas dagegen unternehmen und wieder die Kontrolle übernehmen, denn diese Frau, die offenbar vor nichts halt machte, versuchte, ihm die Tentakel mit einer Axt abzuschlagen. Er konzentrierte sich. Er hatte noch ein paar mehr Tricks auf Lager, die dieses Landwesen nicht verstehen konnte. Er hatte seine Technik und seine Waffen innerhalb seines Körpers.

Dr. Baila schlug immer wieder nach den wild zappelnden Tentakeln, aber sie konnte sie nicht treffen. Dann geschah etwas mit dem Oktopus. Seine Haut wurde aschgrau und er bewegte sich immer langsamer. Vielleicht hatte sie ihn schon getötet? Sie grinste:
„Hab ich dich endlich, du Mistkerl!“
Dann, als die Bewegungen zum Stillstand gekommen waren, schlug sie mit aller Macht auf eines dieser Tentakel ein, doch die Axt prallte daran ab und flog quer durch den Raum, um an der Decke stecken zu bleiben. Der Oktopus war zu Stein geworden. Sie versuchte ihn zur Seite zu schieben, denn er war genau vor der Tür zu Stein geworden. Sie kam nicht mehr hier heraus, wenn sie ihn nicht aus der Tür bekam. Verzweifelt suchte sie nach anderen Waffen und Werkzeugen. Doch nichts, was sie fand, war hart oder scharf genug. Skalpelle brachen ab, ein Brecheisen fing fast an zu glühen und mehrere Hämmer brachen einfach ab. Irgendwann sank sie erschöpft zu Boden und raufte sich verzweifelt die Haare. Sie bekam Hunger, doch steinerne Tentakel versperrten die Tür. Irgendwann schlief sie einfach ein.
Murena schaute an sich herunter. Sie hatte das ganze Schauspiel staunend miterlebt. Ihre Gefangenschaft, die Verwandlung der anderen und ihre eigene Verwandlung. Und nun auch noch dieser Kampf. Sie hatte wirklich nicht gewusst, auf wessen Seite sie stehen sollte. Würde dieses Wesen den Kampf gewinnen, dann musste sie um ihr Leben fürchten, denn auch wenn sie nun aussah, als wäre sie ein Wasserwesen, musste er doch wissen, dass sie nicht wirklich dazugehörte. Wenn er so dumm wäre, dann hätte der Dr. Baila schließlich nicht aufgespürt. Er konnte sogar sprechen. Und es hörte sich fast so an, als wollte er sie retten. Aber warum? Sie konnte sich keinen Grund denken, warum ein Oktopuswesen verhindert wollte, dass sie ebenfalls zu einem Wasserwesen wird. Was wollte er damit erreichen? Wollte er sie wirklich retten oder wollte er sie nur nicht dort unten bei sich haben? Sie wusste nicht, ob sie ihm trauen konnte, aber doch hatte sie ihm die Daumen gedrückt. Und nun war er tot. Aber Dr. Baila hatte auch nicht gewonnen. Sie war hier gefangen, wie es aussah. Murena versuchte ihre Handgelenke aus den Fesseln zu wrimeln. Es tat ihr weh, die Fesseln drückten auf ihre Schwimmflossen. Sie würde hier auch nicht rauskommen, aber diese Fesseln loszuwerden, war schon mal ein Anfang.
Da plötzlich knackte etwas. Es war der Oktopus. Seine steinerne Haut wurde nun brüchig. Mehr und mehr Splisse zeigten sich, dann sprengte sich die oberste Schicht seiner Haut mit einem großen Knall ab und wie bei einer Schlangenhäutung kam ein neuer Oktopus zum Vorschein, mit schöner, weicher Haut. Er erhob sich und schüttelte sich kräftig, bis auch der letzte Steinbrocken von ihm abgefallen war. Dann wendete er sich Murena zu. Sie starrte ihn mit großen Augen an.
„Sssu srauchst seine sangst su hasen“, sagte er. Dann löste er ihre Fesseln.
„Wie hast du unsere Sprache gelernt?“, Murena wunderte sich, dass sie selbst in dieser Form überhaupt noch sprechen konnte. Es war gut. Vielleicht konnte man die Verwandlung wieder rückgängig machen. Das wäre dann noch besser. Zwar träumten sicher viele Mädchen davon, eine Meerjungfrau zu sein, aber ganz bestimmt nicht auf diese Weise und auch ganz bestimmt nicht im Labor von dieser verrückt gewordenen Dr. Baila.
„SSurch einen sguten Sfreund.“
„Wie auch immer. Du hast mich befreit. Wir stehen auf derselben Seite. Wir müssen sie fesseln und die anderen befreien. Vielleicht können wir dann ein Mittel finden, dass gegen die Verwandlung wirkt.“
„Essens aus smeinen stoten Kindern macht dich zum Wasserwesen.“
„Ja ich weiß. Es ist widerlich, was sie ihnen angetan hat. Wir haben es auf dem Video gesehen. Und dann spritzt sie mir das auch noch ins Blut!“
Murena nahm ihre Fessel und schlich sich an die schlafende Dr. Baila heran. Vorsichtig drehte sie ihr den Arm nach hinten, schubste sie sanft nach vorne und fesselte so ihre beiden Hände hinter ihrem Rücken.

 

37. Robert und Melli
„Verdammt, was ist passiert?“, dachte Robert und starrte in Mellis Gesicht. In ihr Fischgesicht. Aber es war noch genug von ihr übrig, dass er sie erkannte. Und wenn er an sich heruntersah, dann ging es ihm im Moment genauso. Dass diese verrückte Dr. Baila Melli das angetan hatte, das war schlimm genug, aber warum musste dieser Oktopus nun auch noch Leute umwandeln? (Weiß Robert das?)
Arbeitete er vielleicht mit ihr zusammen? Er wäre beinahe ertrunken, das wusste er wohl, aber hätte er ihn nicht einfach nach oben bringen können, so schnell wie er war?
Er verstand nicht mehr, worum es hier eigentlich ging. Ging es wirklich nur um Forschung? Ging es um die Anerkennung einer menschenartigen Lebensform? Ging es um Ruhm, um Geld, um Geheimnisse? Er wusste es nicht. Er wusste nur, worum es ihm ging. Es ging ihm um Melli.

Langsam kam sie wieder zu sich. Er hielt sie fest in seinem Arm. Das Wasser um sie herum war kalt, aber er fror nicht. Er konnte atmen, er konnte bei Melli sein. Endlich waren sie wieder vereint, auch wenn er niemals gedacht hatte, dass es auf diese Art und Weise sein würde. Als Meermenschen, Fischwesen, gentechnisch veränderte Mutanten. Er wusste nicht, was er war, aber als er sah, wie Melli endlich ihre Augen öffnete, war es ihm auch egal. Er wollte etwas sagen, aber es kamen nur Luftblasen aus seinem Mund. Als sie ihn sah, erkannte sie ihn, das spürte er. Und sie lächelte. Es war dasselbe Lächeln, dass er von früher kannte. Es hatte sich im Grunde nichts zwischen ihnen verändert. Ja, es war gut. Alles war gut.

Melli sah Roberts Gesicht. Es war in einen blauen Nebel verpackt, schuppig und fischig, aber er war es. Hinter ihm die endlose Weite des Ozeans. Haushohe Wasserpflanzen, Korallen, Fischschwärme und die kleinen Wesen, die sie von den grässlichen Videos kannte, sie kamen alle herbei geschwommen und schauten die beiden an. Sie in seinen Armen. Dr. Baila hatte ihn offenbar auch umgewandelt. Umso besser. So war sie nicht allein. Es war nicht das Gleiche wie in der Zwischenwelt, wo sie vorher war. Auch da gab es einen Ozean, aber da war sie unsterblich. Hier lauerten Gefahren, die sie noch nicht einmal kannte, ja nicht einmal erahnen konnte. Hier fühlte sie Angst, Hunger und auch endlich wieder Liebe. Sie lächelte ihn an. Sie war ihm so dankbar, dass er da war. Und dass er sie noch immer liebte. Sie hatten nie darüber geredet, aber nun war es klar. John war fort. Sie war hier. Robert war bei ihr. Es war sonnenklar. Sie gehörten zusammen. Und auch wenn ein verstörender Teil von ihr mit dem Gedanken spielte, sich selbst zu töten oder zumindest in gefährliche Situationen zu bringen, um wieder die Macht zu spüren, die sie in der Zwischenwelt gespürt hatte, die Macht, Dinge zu verändern, Dinge zu wissen, die sonst niemand wissen konnte und Dinge zu sehen, die sonst niemand jemals sehen würde, so drückte sie dieses Gefühl doch weg und konzentrierte sich auf ihre Liebe. Denn das war es, was zählte. Das Hier und Jetzt.

Sie richtete sich auf, doch Robert hielt sie immer noch fest. Er konnte sie nicht loslassen. Dieser Ozean war zu groß. Der Oktopusmann kam nicht wieder zurück. Er wusste sowieso nicht, was er ihm hätte sage n sollen, denn er kannte seine Sprache ja nicht.

Melli sah, wie sich zwei weitere Fischmenschen näherten. Es waren die beiden Helfershelfer aus dem schrecklichen Video, dass sie sich hatte ansehen müssen. Das Video, in dem sie umgewandelt wurde. Sie schauten traurig, schuldgewusst. Langsam kamen sie näher an sie heran. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass Dr. Baila das gleiche mit ihnen machen würde. Diese Idioten. Dachten sie etwa, sie würde den Ruhm mit ihnen teilen? Dachten sie etwas, dass sie mit ihr schliefen, änderte etwas daran, dass sie auch nur Studenten und ein Mittel zum Zweck für sie waren? Der lange dünne gab ihr die Hand und sprach eine Entschuldigung aus. Die Blasen stiegen nach oben, doch sie konnte sich denken, was er gesagt hatte. Der andere faltete die Hände wie zum Gebet. Das hatte er früher auch schon immer gemacht, wenn sie zusammen im Esszimmer gesessen hatten, um Dr. Bailas verrückte Nahrungsmittel-Kreationen zu probieren. Sie wollte ihn fragen wieso. Wieso konnte alles so entgleisen? Wieso habt ihr da beide mitgemacht? Wie konntet ihr mich so hintergehen? Mich so verraten? Aber sie schwieg und nickte nur. Es blieb ihr ja nichts anderes übrig. Niemand wusste, wie lange sie ihre Form behalten mussten, wie lange sie im Ozean leben mussten und ob man sie überhaupt wieder zurückverwandeln konnte. Und wenn ja, welche Nebenwirkungen würde das Ganze haben?

Da bemerkte sie, dass sie ihr etwas zeigen wollten. Sie fuchtelten wie wild mit den Armen, zeigten in eine Richtung und forderten beide auf, mit ihnen zu kommen. Also machten sich die vier auf den Weg. Sie schwammen unter die Forschungsinsel. Da war eine Öffnung. Die beiden Verräter gaben ihr zu verstehen, dass sie dort hindurchgekommen waren, aber nun war diese Luke zu. Melli schaute sich ihre Hände an. Ihre Fingernägel waren zum Glück zu kleinen Krallen geworden. Damit versuchte sie, die Luke aufzubekommen. Als die anderen begriffen, was sie vorhatte, machten sie alle mit. So hätte es von Anfang an sein können. Es kostete sie eine Menge Kraft, aber dann öffnete sich die Luke einen Spalt. Melli schaute hindurch. Da waren noch mehr umgewandelte Menschen. Wenn sie es richtig erkennen konnte, waren es die beiden Neuen und die Kommissarin. Sie zog nun mit aller Kraft an der Klappe, bis die anderen sie sehen konnten. Sie kannten Melli nicht. Naja, die Kommissarin mochte mal ein Foto von ihr gesehen haben, da sie ja nach ihr suchte. Würde sie sie jetzt erkennen? Hatte sie nicht den Film gesehen? Melli winkte ihnen, sie sollten raus kommen, fliehen. Die beiden Männer huschten sofort aus der Luke. Doch die Kommissarin zeigte auf etwas, was sie außerhalb Mellis Sichtweite abspielte. Ihr blieb nichts anderes übrig, sie schwamm durch die Luke ins Innere des Tanks. Dann sah sie es.

Dr. Baila gefesselt am Boden. Murena als Fischmensch, die sie mit einer Axt in Schach hielt und der Oktopus. War es John? Sie wusste nicht, warum sie sich das fragte. Sie hatte ihren Instinkt für Seelen verloren, jetzt, wo sie wieder ihren eigenen Körper hatte. Aber es musste einen Grund geben, warum sie das dachte. Vielleicht funktionierten diese Instinkte immer noch, nur sehr unbewusst? Dann sah er sie. Auch Robert war durch die Luke in den Tank geschwommen. Der Oktopus kam ans Fenster des Tanks und sah ihr tief in die Augen. Nein, es war nicht John. John war fort. Aber er hatte genug von Johns Gedanken in sich aufgesogen, um wie er zu sein.

John war wieder erwarten wieder in der Zwischenwelt gelandet. Die Fänger hatten ihn auf die Insel gebracht, wo er nun mit den anderen darauf wartete, was passiere n würde. Ihm war es egal, dass er von Melli getrennt wurde. Die Sache war aufgelöst, Dr. Baila besiegt und was auch immer der Oktopus als Strafe für angemessen hielt, das hatte sie auch verdient. Und seine Gefühle waren sinnlos, denn sie liebte Robert. Sie hatte ihn die ganze Zeit geliebt. Und es war kompliziert genug zwischen den beiden, da würde er nun nicht mehr hineinfunken. Und er war froh darüber. Melli hatte es verdient, glücklich zu sein.

 

38. Aus dem Traum aufwachen.
Milva Rosenstock gab Katharina das Gegengift. Dann setzte sie sich zu ihr auf die Bettkante und starrte sie gebannt an. Na endlich! Katharina öffnete ihre Augen.
„Wie geht’s dir, mein Kind? Endlich bist du wach!“
Doch die Augen blieben trüb und starrten sie nur leer an. Zu früh gefreut. Sie versuchte es noch mehrmals, Katharina mit netten Worten aus ihrem Koma zu holen, doch diese starrte an ihr vorbei ins Leere und reagierte nicht.
„Verdammtes Wespennest! Was war ich nur für eine dumme Kuh! Ich schimpfe auf Zenobius und bin doch selbst auch nicht viel besser. Ich hätte sie sofort aufwecken sollen. Ich war egoistisch und nun ist der Schaden angerichtet.“
Die schöne weiße Wölfin war wieder wach geworden. Sie hatte den halbtoten grauen Wolf neugierig beschnuppert und ihm zärtlich über das Gesicht geschleckt. Dann war sie zu Milva gekommen und hatte sich fest an ihr Bein gepresst, sodass sie sie einfach streicheln musste. Wie hatte Zenobius diesen Wolf nur so zahm bekommen? Sie verstand es einfach nicht. Was war hier passiert? Es kam ihr vor, als hätte jemand ihre Welt, wie sie sie kannte, einfach mal auf den Kopf gedreht. Die Zwischenwelt war voller Echsenmenschen, das konnte sie deutlich spüren. Ihre Vorfahren und all ihre gestorbene Verwandtschaft konnte sie nicht mehr spüren. Wo waren sie? Waren sie überhaupt noch irgendwo? Manchmal hörte sie Stimmen aus dem Jenseits, doch sie konnte niemand speziellen mehr in dem Stimmenwirrwarr erkennen. Und es wurden immer mehr. Es hörte sich so an, als würden sie irgendwo festgehalten werden. War Katharina bei ihnen? Milva kraulte die Wölfin am Kopf.
„Du brauchst einen Namen, mein Schatz“, flüsterte sie, „Ich werde dich Kara nennen. Das ist ein schöner Name für einen so schönen Wolf.“
Sie stützte sich auf ihren Stock und stand auf. Die Harpyie hatte ihr zwei Körper gebracht. Einen Toten und einen Halbtoten. Pepe Gunnar konnte also nur in dem Wolf gefangen sein. So konnte sie nicht mit ihm arbeiten. Sie musste dafür sorgen, dass er wieder zurück in den alten Körper ging. Auch wenn sie dafür die dunkelste aller Magie anwenden musste. Sie würde Veronikas Stiefvater irgendwie wieder zum Leben erwecken und diesen grauen Wolf befreien. Man hatte ihm übel mitgespielt. Sie musste auf Zenobius warten, der etwas Fleisch mitbringen wollte, um ihm ein Betäubungsmittel zu verabreichen. Sie wusste nicht, wieviel Macht Pepe Gunnar über diesen Wolf hatte, daher traute sie sich nicht, ihn anzufassen. Wer würde sie wohl eher beißen, Pepe oder der Wolf, fragte sie sich. Inzwischen waren alle ehemaligen Mistkäfer wieder aufgewacht. Offenbar hatte Zenobius Zauber verhindert, dass sie als Menschen starben, auch wenn sie als Käfer schon gestorben waren. Sie hatte sie zusammengebunden und auch den Arzt noch einmal ordentlich gefesselt. Bald würde sie selbst höchst persönlich in die Zwischenwelt gehen und da konnte sie keine Störungen gebrauchen. Sie fragte sich auch, ob sie das Ritual, was dafür notwendig war, hier durchführen sollte. Sie brauchte einen sicheren Ort ohne Störungen. Zum Beispiel ihre Hütte. Aber da war nicht genügen Platz. Vielleicht sollte sie in Erwägung ziehen, das Ganze Ritual in der Höhle ihrer Harpyie durchzuführen. Sie hatte ihr Nest auf dem höchsten aller Berge dieses Kontinents gebaut. Milva war schon einmal da gewesen. Da war eine Höhle, die steil nach unten in den Berg hineinführte. Die Gänge waren nur schmal, nur ein Kind würde hindurchpassen, wenn überhaupt, aber im Vorraum der Höhle war sehr viel Platz. Es war dort gut temperiert und sie waren dort vor Regen und vor allen Dingen vor neugierigen Blicken geschützt. Sie musste, wenn sie diese drei Halunken und den Arzt hier zurücklassen wollte, mit ihren ganzen Sachen aus ihrer Hütte, ihren Zauberbüchern, den Zutaten und ihren Möbeln, nach dorthin umziehen. Wenn ihr keine Lösung für diesen Pack einfallen würde, dann konnte sie sich nach diesem Tag nie wieder in diesem Dorf blicken lassen. Wann kam denn Zenobius endlich zurück? Egal. Sie musste schon anfangen, Vorbereitungen zu treffen. Sie ging schnellen Schrittes nach draußen und pfiff nach ihrer Harpyie. Dann überlegte sie und entschied sich, die Zeugen, die sie belasten konnten, einfach mitzunehmen. Das war einfacher. Man konnte sie vielleicht irgendwie verhexen, dass sie ihr doch noch nützlich sein würden.
Sie sagte: „Bring Katharina in die Höhle neben deinem Nest. Sorg dafür, dass sie dort sicher ist und dass sie es warm hat. Dann kommst du zurück und wir holen ein paar Sachen. Die Harphie gehorchte. Sie zwängte sich durch die Tür, Milva half ihr, Katharina mitsamt einer warmen Wolldecke auf den Sattel zu setzen und dort festzuschnallen. Dann kroch sie vorsichtig wieder heraus und flog davon.
Milva war nervös. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hier Amok zu laufen? Sicher, das Reich der Ahnen zu retten, war wichtig, aber sie brachte durch ihre Handlungen die Menschen nur noch mehr gegen sie auf. Nervös blätterte sie in den Zauberbüchern, die Zenobius praktischer weise hier liegen gelassen hatte. Er war im Zaubern ein Naturtalent. Sollte sie auf ihn warten? Doch der Morgen graute schon und es würden sicherlich Patienten hierher kommen. Sie musste schleunigst hier weg. Und sie musste die Männer sich gefügig machen, sonst würde der Mop sie lünchen. Sie hatte das schon so oft miterlebt, beziehungsweise die Opfer danach im Wald gefunden, manchmal vergraben, manchmal nur mit ein paar Blättern bedeckt. Nicht mit ihr. Sie hatte im Moment wirklich genug Probleme. Sie hatte vorher auch einigermaßen gute Zauberergebnisse hervorgebracht, aber eben nur nicht so gut wie Zenobius. Und immer, bei jedem ihrer Versuche, ging irgendetwas schief. Aber das war ihr jetzt egal. Sie musste es wagen.
Sie nahm das Buch und stellte sich vor die gefesselten Männer.
„Was hast du vor, du Hexe?“, fragte Ubald Trosse ängstlich. Das war genau das, was schon für eine Lynch-Aktion reichte. Das Wort Hexe. Sie beachtete ihn nicht weiter, denn bald würde er, wenn denn alles gut ging, sowieso seinen freien Willen verloren haben.
„Hör mir zu, gehorchen wirst du, tust was ich sage, schätzt mich hoch ein, dann werde auch ich gut zu dir sein.“
Der Spruch verfehlte seine Wirkung nicht. Alle Männer gleichzeitig bekamen einen starren Blick und sagten gleichzeitig: „Ich werde dir gehorchen, meine Liebste!“
Auch das noch. Schon wieder war etwas schief gegangen. Sie wollte nur willenlose Helfer haben, dass sie nicht hinrannten und sie bei der Dorfbevölkerung in Verruf brachten, aber doch nicht, dass sie sie alle liebten! Das Leben war nicht gut zu ihr. Vielleicht war sie einfach nicht dafür geschaffen, diese Art von Magie anzuwenden, wie Zenobius. Vielleicht sollte sie lieber bei ihren Kräutern und Kristallen bleiben. Wie auch immer, sie war schon viele Male dazu gezwungen, Zaubersprüche anzuwenden, denn sonst hätten die ungebildeten Leute aus dem Dorf keinerlei Respekt vor ihr und sie wäre schon lange bei diversen brenzlichen Situationen getötet wurden. Sie hatte aber keine Wahl, sie musste nun damit umgehen, denn sie hatte einfach keine Zeit mehr. Die Sonne ging schon auf, als endlich auch ihre Harpune zurückkam. Sie befahl den Männern, auf den Rücken des riesigen Vogels zu steigen und sie wollte auch die beiden Wölfe und den Leichnam mitnehmen. Doch, mehr als drei Männer passten nicht auf den Vogel. Ubald Trosse blieb zurück und schaute sie mit verliebten Augen an. Sein Blick war verklärt und er lächelte dümmlich. Milva nahm sich einen Stift und ein Stück Papier und schrieb auf einen Zettel: „Arztpraxis heute geschlossen!“ Und heftete es an die Türe.
„Hör zu“, richte sie sich nun an Ubald Trosse.
„Ja, Liebste?“
„Ich möchte, dass du sagst, dass du zu einer Hochzeit musst. Eine Hochzeit in Shyven. Damit keiner sich wundert, wenn du etwas länger weg bist, verstehst du?“
„Wer heiratet denn?“
„Deine Schwester?“
„Ich habe keine Schwester.“
„Du wirst es trotzdem sagen, verstanden? Du willst mir doch gefallen oder?“
„Ich habe eine viel bessere Idee, meine Liebe!“
„Du sollst aber gar nicht selbst denken. Überlas das Denken einfach mir.“
„Willst du es denn gar nicht wissen, mein Schatz?“
„Nein. Tu einfach was ich sage, Ubald, verstanden?“
Ubald kniet vor ihr nieder und bindet aus einer Schnur eine Art Ring zusammen.
„Willst du mich heiraten, Milva? Du weißt, damals ist nichts aus uns geworden, aber heute könnte alles anders sein!“
Milva seufzte. Sie sollte nicht mehr zaubern, wirklich.
„Ubald, bitte. Ich habe doch jetzt wirklich andere Probleme, als das! Außerdem bin ich alt, ich hab meine besten Tage schon lange hinter mir!“
Sie wunderte sich über sich selbst. Dachte sie etwa tatsächlich darüber nach? Hatte sie sich auch gleich selbst mit verhext? War sie nun dazu verdammt, nett zu ihm zu sein, wenn er auch nett zu ihr war? Langsam begriff sie, warum immer alles schief ging. Es war wohl die Angewohnheit, immer sehr lange Reime zu machen. Es waren ihre Formulierungen.
Endlich kam die Harpyie zurück. Sie wollte so schnell wie möglich hinterher, damit Katharina nicht so lange mit ihnen allein sein musste. Sie war bewusstlos und Milva hatte keine Ahnung, welche merkwürdigen Nebenwirkungen ihre Verzauberung auf die jungen Männer gehabt hatte. Ubald war ja schon früher in sie verliebt gewesen. Da war nur etwas altes wieder hervorgeholt worden.
„Befestige den Toten am Satten, dann nimm den kranken Wolf und auf den Vogel!“, befahl sie Ubald. Der tat augenblicklich, was sie ihm befohlen hatte. Immerhin etwas funktionierte noch. Sie befahl nun der Wölfin, auf den Sattel zu springen, was sie auch sofort tat, dann kletterte sie selbst auf den Sattel. Die Harpyie erhob sich und flog davon.

Als Zenobius mit seinen Einkäufen die Arztpraxis betrat, war da keine Spur mehr von Milva, den Wölfen, Katharina oder den Männern. Selbst der Arzt war nicht mehr da. Die Menschen aus dem Dorf sammelten sich vor der Praxis und warteten, dass sie öffnete. Doch sie warteten vergeblich. Die Arzthelferin schickte sie nach Hause.
„Wer wirklich Hilfe braucht, muss nach Shyven ins Krankenhaus!“, sagte sie.
Zenobius war nicht besonders überrascht. Er hatte schon damit gerechnet, dass Milva verschwinden würde. Hier konnten sie nicht bleiben, es zog zu viel Aufmerksamkeit mit sich. Er stand da nun mit dem Bären, einer passenden Kutsche und nahm sich vor, nun endlich seinen Auftrag zu erfüllen, und nach dem Kind zu suchen. Er gab dem Bären einen leichten Tritt und dieser setzte sich in Bewegung. Zwar war das ungewohnt, doch er brachte es fertig, die Kutsche am Fluss entlang und den Berg hochzuziehen. In Shyven würde er den Vater zuerst suchen. Vielleicht kannte jemand ihn da. Milva würde sich bei ihr melden, wenn sie ihn brauchte. Er hoffte nur, dass es Katharina wieder gut ging. Auf dem Zettel an der Tür der Arztpraxis stand: „Praxis dauerhaft geschlossen, denn ich heirate meine Jugendliebe Milva Rosenstock in der schönen Stadt Shyven!“
Wenn das wirklich stimmte, würde er sie dort vielleicht treffen, doch richtig glauben konnte er das nicht.

 

39. Der Tunnel zum Glück
Während die anderen oben am Schacht standen und berieten, wer klein und mutig genug sei, an einem Seil hinunter gelassen zu werden und Veronika zu suchen, ging Veronika unaufhaltsam immer tiefer in den Schacht. Er war eine Weile ziemlich steil bergab gegangen, doch mittlerweile konnte sie bequem ohne Seil weiterlaufen. Das Seil war irgendwann auch nicht mehr lang genug gewesen. Kerzen hatte sie immer noch. Sie hatte den gesamten Vorrat aus dem Lager in die Merkwürde Tasche von Nona gesteckt, denn sie selbst besaß ja so etwas wie eine Tasche noch nicht. Später würde sie Nona dafür Gold geben, eine Menge Gold sogar. Und sich die beste und größte Tasche kaufen, die es auf der Welt gab. Auch die Zündhölzer waren ihr ausgegangen. Sie musste darum die nächste Kerze immer an der vorherigen Kerze anzünden. Das war sowieso praktisch, denn dann sah sie auch, wohin sie lief. Der Gang schien schmaler, aber höher zu werden. Es ging sehr oft rechts herum. Sie lief im Kreis, aber der Schacht führte immer noch nach unten. Die Wände wurden immer feuchter und es wurde immer kälter. Sie schaute sich aufmerksam die Wände an, suchte nach Silber- oder Kristalladern. Doch hier unten steckten nur eine Menge schwarzer Steine in der Wand. Sie wusste nicht, was das war. Ein Teil von ihr wollte alle schwarzen Steine aus der Wand schlagen, aber ihre Füße trugen sie immer weiter. Sie wollte wissen, wohin dieser Schacht führte. Niemand sonst hatte sich das getraut. Hier musste ein großer Schatz auf sie warten. Der Schatz aus ihrem Traum, der ihr Leben und das ihres Vaters von Grund auf verändern würde. Tiefer und tiefer lief sie nach unten, wohin sie der Schacht führte. Dann kam sie an eine Gabelung. Der eine Weg führte scheinbar wieder nach oben, der andere Weg führte weiter nach unten. Schätze sind unten, dachte sie. Der Weg der nach oben führt, der führt mich sicher wieder an die Oberfläche. Trotzdem folgte sie ihm ein paar Schritte, nur um erahnen zu können, wohin es ging. Hier waren weiße Steine in der Wand. Sie glitzerten wunderschön. Einige glitzerten in bunten Farben, andere waren weiß wie Eierschalen. Der Weg führte weiter, wohin konnte sie nicht erkennen, denn es ging auch hier wieder in Kurven voran. Aus dem Schacht strömte Wärme. Es roch nach Schwefel und Ruß. Sicher hatte jemand dort irgendwo ein Lagerfeuer angezündet. Sie musste also nah an der Oberfläche sein. Ein zweiter Eingang zur Mine vielleicht? Sie würde später ihrem Vater davon berichten. Doch jetzt wollte sie nicht an die Oberfläche. Jemand würde sie dann finden und zurückbringen. Sie würde bestraft werden, ohne einen Schatz vorweisen zu können. Dann war alles umsonst. Also folgte sie dem Weg in die Tiefe. Es wurde kälter und kälter. So kalt, dass Veronika mit den Zähnen klapperte und zu zittern begann. Sie hielt die Kerze ganz nah vor ihren Körper, um etwas von der Wärme abzubekommen. Ihre Hände zitterten so, dass ständig Wachs auf den Boden tropfte. Und dann war alles vorbei. Der Schacht endete im Wasser. Sie kam nicht weiter. Und sie hatte fast alle ihre Kerzen verbraucht und keine Ahnung, wo sie eigentlich war. Diese ganze Sache war nur eine fixe Idee von ihr gewesen. Es hatte ihr nichts gebracht. Sie war hier ganz allein, hatte gegen alles verstoßen, was ihr Vater ihr gesagt hatte und alles missachtet, was er ihr erklärt hatte und zu allem Überfluss hatte sie auch noch ihre Freundin beklaut. Sie berührte das Wasser mit ihrem Finger. Es war eiskalt. Doch sie hatte Durst, also überwand sie sich und trank davon. Die Kälte stieg ihr in die Adern und in jede Pore ihres Körpers. Sie wollte nur noch zurück. Sie erinnerte sich daran, dass es in dem anderen Schacht wärmer gewesen war, also lief sie zurück. Doch als sie sich entfernt hatte, machte sie den Fehler, noch einmal zurück zu schauen. Und da sah sie ein Licht unter der Wasseroberfläche schimmern. Ihr Gehirn registrierte das. Sie lief so schnell sie konnte, in den warmen Schacht. Jetzt hatte sie nur noch drei Kerzen. Einige der Kerzen, die sie auf die Felsen geklebt hatte, brannten noch. Sie folgte dem Gang mit den weißen, schimmernden Steinen. Und dann lief sie einfach weiter. Sie wusste nicht warum. Wenn sie vernünftig gewesen wäre, dann wäre sie umgekehrt. Aber heute hatte sie schon so viel Unvernünftiges getan, dass es nicht mehr darauf ankam. Sie wollte wenigstens mit einem Ergebnis wieder zurück gehen, auch wenn sie nicht wusste ob sie den Weg später im Dunkeln überhaupt noch finden würde. Es wurde heißer und heißer. War sie vorher fast erfroren, lief ihr nun der Schweiß von der Stirn. Die Luft wurde stickiger und sie brauchte keine Kerzen mehr, weil der Stein links und rechts zu glühen schien. Ihr Instinkt warnte sie, dass es gefährlich war, aber ihre Füße liefen einfach weiter. Sie wusste nicht wieso.

Nona wurde heruntergelassen. Sie war die Einzige, die durch den schmalen Schacht passte. Sie brauchte, wegen ihrer leuchtenden Haut, und ihrer Nachtsichtfähigkeit keine Kerzen. Im ganzen Lager gab es keine einzige Kerze mehr. Veronika hatte sie alle verbraucht. Nona wusste, dass es bei den Menschen etwas Schlechtes war, Befehlen nicht zu gehorchen. Veronika würde bestraft werden und vielleicht würde ihr neuer Vater sie verstoßen oder hart bestrafen. Vorausgesetzt, sie käme da lebend wieder heraus. Nona wollte ihr wenigstens dabei helfen. Sie lief auf dem kalten, glitschigen Stein so schnell, wie ihre dünnen Beinchen sie eben tragen konnten. Auch sie bemerkte sie schwarzen Steine und kam schließlich an die Weggabelung. Veronika hatte in beiden Richtungen ihre Kerzen aufgestellt. Aber wo war sie nun?

Veronika hatte nicht bemerkt, dass die Luft in dem Schacht immer dünner geworden war. Sie war zusammengebrochen und atmete nur noch flach. Ihre Haut war nass von Schweiß. Da kam ein Schatten aus der Dunkelheit und näherte sich ihr. Er sah die Tasche und wunderte sich sehr. Dann begriff er, dass es Veronika nicht gut ging. Und er tat das, was er schon einmal gemacht hatte, vor vielem Jahrtausenden, um einen Menschen zu retten. Er wandelte sie um. Dann trug der Oktopus, der nach all den Jahren, nach dem das mit Dr. Baila passiert war, immer noch hier unten lebte, die bewusstlose Veronika in eine Höhle mit genügend Luftzufuhr. Er wusste nicht genau, in was er sie verwandelt hatte, aber ihre Lebenszeichen wurden stärker und ihr Herz schlug lauter. Er hatte über all die Jahrhunderte so viele Merkmale gesammelt, dass er die Kontrolle über die Methamorphosen verloren hatte. Noch sah der Mensch aus, wie ein Mensch. Er wusste nicht, was er verändert hatte, aber er hatte etwas verändert. Ja, verbessert. Da war er sich sicher. Veronika öffnete die Augen. Anders als die vielen Seefahrer, denen er begegnet war, schien sie keine Angst vor ihm zu haben.
„Wer bist du?“, fragte sie.
Er schaute sie liebevoll an. Nach dem Vulkanausbruch vor vielen Jahrhunderten, hatte sich eine große Landmasse auf dem ehemaligen Ozeanplaneten gebildet. Das hatte noch mehr Landlebewesen angelockt. Dr. Baila war gegangen. Sie hatte ihm die Schuld gegeben. Murena, Melli, Robert, die Kommissarin und die vier männlichen Studenten, waren bei ihm geblieben. Er hatte sie immer wieder zum Leben erweckt, wie er es seit Jahrtausenden mit den Nonas tat und sie waren ihm treu ergeben. Naja, nicht ganz. Sie wollten kämpfen. Er wollte sich verstecken. Er hatte zu viele böse Gedanken dieser Landwesen gesehen. Es war so viel Bösartigkeit in ihnen, so viel Hass, Neid, Missgunst, Mordlust, Gier und Gewalt. Er war nicht mehr so jung. Er hatte keine Kraft mehr. Diese Landwesen hatten ihr Land bekommen, durch eine schicksalhafte Fügung des Planeten in Form eines gigantischen Vulkanausbruches, der ihn beinahe getötet hatte. Was sollte er dagegen tun? Es war so, als hätte der Planet selbst es entschieden.
„Ich war hier einmal der König“, sagte er also.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich seine Niederlage einzugestehen.
Veronika blickte ihn an. Seine Haut war rot und schuppig, er hatte zwei mächtige Hörner auf dem Kopf und bewegte sich auf acht riesigen Tentakeln. Voller Neugierde berührte sie ihn.
„Ein König warst du? Ein Fischkönig?“
Er nickte.
„Was tust du hier nur, Menschenkind?“, fragte er.
„Ich suche den Schatz, den ich in meinen Träumen gesehen habe.“
„Du hast davon geträumt?“
Veronika nickte.
„Beschreibe deinen Traum“
„Ich komme aus der Mine meines Vaters mit einem dicken Klumpen Stein in meinem Armen. Es ist Silber darin und auch viele dieser bunt leuchtenden Kristalle in allen möglichen Farben. Mein Vater lacht und freut sich. Und dann kann ich die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit gleichzeitig sehen, nur für eine Sekunde. Und daher weiß ich, dass wir niemals glücklich werden, wenn ich diesen Schatz nicht finde.“
Der Oktopus sah Veronika interessiert an. Er kannte die Fähigkeit des Träumens von den Menschen, die zu seiner Art hinzugefügt worden waren. Er versuchte, in Veronikas Gedanken etwas zu erkennen, eine List, eine Lüge oder eine Täuschung. Doch so etwas fand er da nicht. Er sah, dass sie Nona kannte. Er sah, dass sie gelogen hatte und ihre Tasche und alle Kerzen genommen hatte. Und er spürte das Bedürfnis, diesen Schatz zu finden, genau wie sie. Er sah aber auch, was ihr Vater ihr aufgetragen hatte, die Warnungen Nonas und was ihr in ihrer früheren Familie passiert war. Dieses Menschenkind war sehr interessant und vielversprechend. Sie glaubte, was sie sagte. Sie spürte ehrliche Gefühle und sie tat alles, damit ihr Traum wahr werden konnte. Dabei war sie noch viel zu jung, um die Weisheit von Träumen richtig zu deuten. Er hatte inzwischen gelernt, dass es besser war, Verbündete im Reich der Landwesen zu sammeln, als mit ihnen Krieg zu führen. Aber solche Verbündete fand er nur unter denen, die keine Scheu hatten, keine Vorurteile und dafür eine übergroße Neugierde. Milva Rosenstock war eine solche Verbündete, auch wenn er nicht immer verstand, was sie tat und warum sie es tat. Sie verstand auch nicht, was er tat und so funktionierte es. Man ignorierte, was man nicht verstand. Sie hatte ihm die Traumdeutung beigebracht. Er sorgte dafür, dass sie sich unter Wasser genauso sicher fortbewegen konnte, wie an Land, so dass sie hier immer einen letzten Zufluchtsort hatte. Sie hatte ihm auch dabei geholfen, zu versuchen, diese Landwesen wieder in ihre ursprüngliche Form zurückzuverwandeln, denn diese hatten unheimliches Heimweh nach ihrem alten Leben. Er wusste, dass Melli manchmal einfach aus ihrem Körper verschwand. Manchmal tötete sie sich absichtlich, um ihre Seele wandern zu lassen. Er gab ihr dann jedes Mal drei Tage, um zu erledigen, was auch immer sie wo auch immer zu erledigen hatte, bevor er sie wiederbelebte. Robert blieb immer nahe bei ihm und war zu einem vertrauten Diener und Ratgeber geworden. Und Murena rettete unaufhörlich Schiffbrüchige und brachte sie auf diverse Inseln, denn sie glaubte, wenn die Menschen anfingen, die Fischmenschen zu lieben und ihnen dankbar zu sein, dann würden sie auch aufhören, sie zu jagen, zu essen, zu fürchten oder ihren Müll ins Meer zu werfen.
Dieses Kind war wie Murena. Naiv mit einem Ziel vor Augen und nichts schien sie davon abbringen zu können. Er könnte ihr den Traum erklären und damit ihren Traum zerstören. Oder er half ihr einfach dabei, ihren Traum zu leben. Aber er wusste nicht, ob er ihr damit wirklich helfen würde. Wie auch immer. Er musste ihr wohl die Wahl lassen. Also begann er, ihr den Traum zu erklären.
„Deinem Vater gehört die Mine?“
„Ja“
„Was ist das für ein Ort? Diese Mine? Und warum suchst du nicht dort nach deinem Schatz, wenn dein Traum doch gezeigt hat, dass er dort zu finden ist?“
„Die Mine ist hier. Wir sind gerade drinnen.“
„Die Mine ist hier? Außer dich habe ich hier noch nie Menschen gesehen!“
Der Oktopus schaute sich erstaunt um. Sie waren hier eingedrungen? In sein zu Hause? Wann würden sie kommen, um ihn zu verjagen?
„Ja, ich bin ziemlich weit gelaufen, immer im Kreis. Ich durfte nicht, aber ich musste doch den Schatz holen!“
Er seufzte. Menschenkinder waren so naiv. Würden diese Landwesen immerzu Kinder bleiben, dann hätte er mit ihnen vermutlich weniger Probleme.
„Zeig mir die Richtung, aus der du gekommen bist, Kind!“
Veronika zeigte in eine Richtung.
„Dort ist ein eiskalter See, aus dem Licht schimmert und dort kam ich her, da wo die Kerzen überall sind.“
Der Oktopus setzte sich in Bewegung. Er wollte es sehen. Er fand den See, der direkt in eine Bucht führte, wenn man hindurch tauchte. Dann fand er den schmalen Schacht, gerade breit genug für dieses Kind, der immer weiter nach oben führte in vielen engen Kurven. Als Oktopus könnte er sich hindurchwinden. Doch er konnte riechen, wie weit es war. Und ja, wenn er sich sehr genau konzentrierte, dann roch er sie, die Menschen, ihren Schweiß und den Staub, den sie aus den Wänden schlugen. Und er roch noch etwas anderes. Nona!

Plötzlich stand sie vor ihm. Ihr König. Sie war so froh. Sie hatte die Gesellschaft der Menschen nicht gerade genossen, außer der von Veronika. Und wie Veronika ihrem Vater in die Arme gesprungen war, sprang sie ebenfalls geradezu in seine Arme, denn sie hatte ja gerade Beine. Sie wollte wissen, wie sich das anfühlte. Er lachte.

Wie Fischmenschen es nun mal tun, unterhielten sich die beiden mittels Gedankenübertragung und das geht viel schneller, als zu reden. Dafür braucht man aber länger, um alles genau zu verstehen.
„Du hast Veronika gerettet!“, rief Nona und war sehr glücklich darüber. Was sie nicht ganz verstanden hatte, waren die ganzen anderen Gedanken, die der König Minuten vorher noch gedacht hatte. Aber sie verstand, auch er hatte eine Freundin bei den Menschen, genau wie sie. Sie hatte also nichts falsch gemacht. Zusammen liefen sie zu Veronika, die sich inzwischen aufgesetzt hatte und sich erstaunt umschaute. Als sie Nona sah, entschuldigte sie sich sofort und gab ihr die Tasche zurück.
Dann setzten sich alle drei an einen Steintisch mit Steinstühlen und der Oktopuskönig fing an, ihr ihren Traum zu erklären. Nona, die ebenfalls etwas über Träume wissen wollte, hörte aufmerksam zu.
„Deinem Vater gehört die Mine?“, fragte er. Veronika nickte.
„Er verdient seinen Lebensunterhalt damit?“
Veronika nickte wieder.
„Und zuvor hast du bei armen Leuten gelebt, die dich schlecht behandelt haben?“
Veronika schaute verlegen auf ihre Füße.
„Dann werde ich dir jetzt etwas sagen, was du vielleicht nicht glaubst, aber dein Vater ist der Schatz in deinem Traum. Du wirst solange glücklich sein, wie du bei ihm bist und er sich um dich kümmert. Er ist nicht arm und er behandelt dich gut. Er bringt dir etwas bei, du musst nur auf ihn hören. Das ist dein Schatz, verstehst du?“
Veronika starrte ihn schweigend an. Nona wusste genau, was Veronika dachte. Sie hatte immer noch diesen Steinbrocken im Kopf und sie würde keine Ruhe geben, bevor sie nicht mit diesem Brocken an die Oberfläche gehen würde. Das merkte auch der Oktopus, also wendete er eine List an. Eine List, die ihm die Menschen für immer aus seinem zu Hause fernhalten würde. Es gab keine andere Höhle auf diesem Planeten, in der er sich verstecken konnte. Es gab nur diesen einen besonderen Platz für ihn, der sein zu Hause war und wenn man ihn aus dem verjagte, dann würde er sterben. Also nahm er eine der Schatztruhen, die von den gekenterten Schiffen ins Meer gesunken waren. Er entfernte die Hälfte der Schätze und füllte den Rest mit Steinen auf. Dann legte er sie in die Nähe des Vulkanschlunds, bis das Eisen, aus dem die Truhe gefertigt war, zu schmelzen anfing. Bald wurde alles, die Truhe, die Steine und der kostbare Inhalt, zu einem einzigen Klumpen. Er rollte nun den Klumpen vom Vulkanschlund weg, dorthin, wo das Wasser eiskalt war. Und als alles abgekühlt war, brachte er Veronika den Klumpen. Sie war inzwischen eingeschlafen. Sie und Nona lagen eng umschlungen auf seinem Bett. Also setzte er sich hin und wartete. Das war Veronikas Schatz. Sie sollte ihn zu ihrem Vater bringen. Der würde erkennen, dass hier unten ein Vulkan brodelte, und würde aus Sicherheitsgründen die Mine sofort schließen. Ein guter Plan. Was er tun sollte, wenn das nicht funktionierte, wusste er aber nicht.