Kommt es auf die Länge an?

Meine Versuche, mein Aufschiebeverhalten mit einer wöchentlichen Zettelstatistik zu bekämpfen, zeigen Erfolg. Das führte bisher allerdings nicht dazu, eine Schreibroutine für meinen Roman zu entwickeln. Sicher, ich habe mir Gedanken gemacht, zum Beispiel wie ich die Beschreibung des Ortes in die Geschichte einbinden kann, sodass es nicht wie aus dem Reiseführer entnommen klingt. Und ich habe auch endlich einen Namen für die geheimnisvolle Ökotrophologin gefunden. Aber geschrieben kein Wort, nicht mal die Datei geöffnet.

Statt jeden Tag etwas für den Roman zu schreiben und weiter schwedisch zu lernen, mache ich aber viel für mein Fernstudium und gehe öfter spazieren. Ich habe darüber nachgedacht, ob die Geschichte, die ich schreiben will, wirklich ein Roman sein muss. Kurzgeschichten fallen mir leichter, kann die Geschichte nicht auch als Kurzgeschichte erzählt werden? Sind meine Kurzgeschichten vielleicht alle zu kurz? Im Fernstudium gab es meist die Vorgabe, nicht mehr als 8 Seiten zu schreiben. Vielleicht ist das zu wenig für meine Ideen, aber ein Roman wäre wiederum zu viel Platz. Woher weiß man, ob eine Idee für einen längeren oder kürzeren Text taugt? Oder taugt jede Idee für längere und kürzere Texte? Kann man vielleicht immer beides daraus machen? Bestimmte Kapitel als Kurzgeschichte zu schreiben, könnte meinem Roman helfen, denn da habe ich nun schon etwas Übung. Im Romane schreiben habe ich keine Übung.

Moment, das stimmt nicht. Beim Schreibmarathon versucht man immer, einen Roman bzw. eine Novelle daraus zu machen. Das Problem dabei ist nur, dass es da hauptsächlich um die Länge geht. Statt mich ganz auf den Text zu konzentrieren, auf den Inhalt, Figuren und die Geschichte, habe ich meine erstbeste Idee genommen und dazu möglichst ausführlich und viel geschrieben. Wortanzahl und Details, statt Inhalt und Plot. Darum ist nichts daraus geworden bisher. Darum empfinde ich den Schreibmarathon nicht als Übung dafür, einen Roman zu schreiben, sondern als Übung dafür, wie man möglichst viele Wörter schafft oder wie man überhaupt mal anfängt, etwas zu schreiben und es bis zum bitteren Ende durchhält. Was kommt dabei heraus? Improvisiertes Schreiben. Kann oder sollte man sich überhaupt eine bestimmte Wortanzahl als Ziel vornehmen? Ist die Geschichte, die erzählt werden soll, nicht wichtiger? Kann man wirklich vorher sagen, wie viele Wörter ein bestimmter Inhalt, den man schreiben will, haben soll oder haben wird? Manche Ratgeber suggerieren, dass man niemals einen Roman schreiben wird, wenn man sich die Wortanzahl nicht als konkretes Ziel formulieren kann. Macht es Sinn, viel zu schreiben, wenn der Inhalt nirgendwohin führt? Ist es nicht besser, an einer Idee so lange zu schreiben, bis man das Gefühl hat, man ist damit fertig? Egal, ob man es hinterher in eine Kategorie stecken kann oder nicht?

Im Moment ist es mir nicht so wichtig, weil meine Prioritäten darauf liegen, mein Fernstudium möglichst zügig zu beenden. Aber in drei Wochen kein einziges Wort für den Roman zu schreiben? Das kommt mir schon unheimlich vor, als würde ich es unbewusst vermeiden. So kann ich ja nie fertig werden. Allerdings würde es mir sicher helfen, mich zu konzentrieren, wenn ich mit dem Fernstudium durch bin, also vielleicht kein Grund zur Aufregung. Und mir fehlt nicht mehr viel.

Was ist der Unterschied zwischen Kurzgeschichte und Roman? Um Kurzgeschichten zu üben, braucht man weniger Zeit. Ganz einfach. Warum nehmen sich so viele Leute vor, einen Roman zu schreiben und warum schaffen es so wenige? In unserer Gesellschaft gibt es nur wenige Möglichkeiten, die eigene Fantasie und Individualität auszuleben. Überall verläuft das Leben in vorgegebenen Bahnen, fast nirgendwo kann man selbst etwas gestalten. Überall Begrenzungen, Regeln, Vorgaben, sogar Zwang. Wer einen Roman schreibt, der hat zumindest die Hoffnung, dort einiges an eigenen Ideen und Fantasien ausleben zu können. Und wer es schafft, dies erfolgreich zu veröffentlichen, der hat sich selbst und seine Ideen auf eine Weise verewigt.

Ein Grund, warum viele es nie beenden, ist vermutlich auch die Zeit, die es kostet. In der Zeit kann man kein Geld verdienen. Man muss eine ganze Menge investieren und weiß nicht, was man zurückbekommen wird. Und bei uns zählt nun mal Leistung mehr, bei der garantiert und regelmäßig Geld generiert wird, als das Ausleben von Individualität.

Einen Roman zu schreiben, bedeutet persönliches Wachstum, da man sich mit seinen eigenen Ideen und Erfahrungen bewusst auseinandersetzen muss. Man muss verarbeiten lernen, um sich von den Erfahrungen zu distanzieren und sie in eine Form umzuwandeln, die in eine Geschichte eingebaut werden kann, die dann anderen Menschen hilft, diese Erfahrung zu verstehen. Geschichten schreiben dient keinesfalls nur der Unterhaltung von anderen. So wird es immer dargestellt, weil Unterhaltung etwas ist, womit Geld generiert werden kann. In Wirklichkeit suchen die Menschen, wenn sie lesen, nach Erfahrungen und Emotionen, die sie so, auf eine ungefährliche Art und Weise miterleben und ausleben können, um für ihr eigenes reales Leben daraus etwas zu lernen. Das ist der Grund, warum Menschen stundenlang vor dem Fernseher sitzen, exzessiv Computerspiele spielen oder in jeder freien Minute alles an Geschichten lesen, was sie in die Finger bekommen können.

Dabei sollte jeder Mensch an seiner eigenen Geschichte arbeiten. Jeder hat irgendetwas zu erzählen und es gibt tausend Arten, wie man das tun kann. Aber Sachzwänge verhindern das. In der heutigen Welt zählt nur Leistung. Wer irgendwie anders ist, die Spielregeln nicht perfekt beherrscht oder seine Leistungsfähigkeit in irgendeiner Weise verliert und nicht mehr tun kann (oder tun will), was man von ihm/ihr erwartet oder wie man es von ihm/ihr erwartet, wird von der Gesellschaft, die hauptsächlich auf Ignoranz, Generalverdacht, sowie Neid und Missgunst aufgebaut ist, nur noch als Belastung wahrgenommen. Für Träume, eigene Gedanken und Ideen, persönliches Glück, Zufriedenheit oder Wohlbefinden, sowie Individualität ist in unserer Gesellschaft nicht viel Platz. Und wenn, dann versucht irgendjemandanders schon damit Geld zu verdienen. Wenn etwas nicht dazu führt, dass Geld generiert wird, wird es als Verschwendung von Zeit und Ressourcen wahrgenommen. Ein Roman zu schreiben, den man nie beendet? Einen Roman zu beenden, der aber nie verkauft wird? Bei einer Sache zu bleiben, durch die man viel Zeit verliert, aber keinen einzigen Euro verdient? Welchen Sinn sollte das haben?

Diese Frage kann ich zumindest beantworten: Schreiben fördert persönliches Wachstum. Sich der eigenen Gedanken und Bedürfnisse bewusst werden, zu sehen, was in einem drin ist, welche Art von Fantasie, welche Ideale und Ideen einen als Menschen beschäftigen, kurz, welche Art von Geschichte man immer wieder erzählen möchte. Wenn man sich dem nicht zuwendet, wird es einem vermutlich nie bewusst. Zeit zu opfern für eine Sache, bei der man vorraussichtlich kaum Euro verdient, scheint vielen Leuten als Verschwendung. Ist es aber nicht. Eine Geschichte zu schreiben verlangt nach sehr viel Achtsamkeit für sich selbst und die eigenen Gedanken. Darum ist es das Wertvollste und Schwierigste, was man heutzutage für die eigene, persönliche Entwicklung tun kann.

Menschen, die anfangen einen Roman zu schreiben, weil es für sie eine Art Statussymbol ist (schaut her, ich bin klug, ich habe es geschafft), werden vielleicht, während sie schreiben, von ihren eigenen Gedanken abgeschreckt. Für andere sind Sachzwänge immer wichtiger und die kriegen ihren Roman dann auch nie fertig. Prokrastination ist nicht die Ursache dafür, dass man etwas nicht schafft, sondern selbst das Resultat vieler möglicher Ursachen. Zum Beispiel der Glaube daran, dass man einen Erfolg nicht verdient hat, dass es ohnehin keinen Sinn hat, es zu versuchen oder es ist eine Folge der Angst vor Selbstoffenbarungen. Durch zu viele Selbstoffenbarungen in einem Text, macht sich der Schreiber sehr verwundbar. Aber nur durch das Gefühl der Verwundbarkeit werden einem bestimmte Aspekte der eigenen Psyche bewusst.

Die Wortanzahl sollte also nie das Ziel beim Schreiben sein, es sei denn, es geht um Übungen zum Aufwärmen und um Schreibblockaden zu überwinden, da hilft es sehr, übrigens genau wie das Schreiben nach Zeit. Wer wirklich eine Idee für eine Geschichte hat, sollte sich der Idee ganz und gar zuwenden. Wortanzahl, Zeit und Geld, sollten da keine Rolle spielen.