Halbzeit

Da ich heute wieder mal frei habe, konnte ich die Zeit nutzen und gleich zwei Kapitel schreiben. Vielleicht, wenn ich ganz gut drauf bin und mir noch etwas einfällt, folgt heute Abend auch noch ein Kapitel. Ich bin jetzt bei Übung 28 in der 31sten Kalenderwoche. Langsam hole ich die verpasste Zeit wieder ein.

Es ist jetzt über die Halbzeit. Über 100 Seiten. Und alles spitzt sich langsam aber sicher zu. Geheimnisse werden gelüftet, Kämpfe ausgefochten.

Ich begreife nun, dass die ganzen sinnlosen Versuche, die Geschichten, die zu nichts geführt haben und nie beendet werden konnten, die Grundlage für diese Geschichte sind. Ohne diese sinnlosen Versuche, würde mir nicht immer wieder was einfallen. Und ich hätte niemals den Ehrgeiz entwickelt, etwas zu Ende schreiben zu wollen.

Meine Gedanken haben sich anscheinend schon die ganze Zeit darauf vorbereitet, diese eine Geschichte zu schreiben. Ich wusste es nur nicht. Wenn ich gewusst hätte, wo mich dieses ganze Versagen und nicht schaffen noch hinführt, hätte ich mich nicht so schlecht deswegen gefühlt. Nicht so sehr als Versagerin. Ich hätte mehr innere Ruhe und Zuversicht haben sollen.

Ansonsten hat die Krankengymnastik mal wieder Früchte getragen. Kann meinen Rücken jetzt bewusster gerade halten. Das macht den Bauch flacher und ich fühle mich endlich wieder wie ein normaler Mensch. Es ist ja kein Wunder, wenn die Hüfte wehtut, wenn ich mein ganzes Gewicht darauf verlagere. Der Rücken muss den Körper tragen und die Beine. Darum muss der Rücken stark sein. Vielleicht sollte ich die Rudermaschine öfter mal benutzen? Heute schaue ich mir meine beiden Pilates-DVDs mal wieder an. Das sind die Übungen, die ich jetzt brauche.

Ich war heute schon mit dem Hund los, zusammen mit meinem Vater. Richtig im Wald bei den Fischteichen waren wir. Dann hat er Knochen für den Hund besorgt und ich habe das gleich gekocht und klein geschnitten und weggepackt. Ich hab gesaugt und die Wäsche in die Maschine getan. Und zwei Kapitel geschrieben und es ist noch nicht mal halb drei. Ich kann heute noch viel mehr erledigen. Oder den Rest des Tages einfach genießen! Aber nun erst mal die Früchte meiner Arbeit von heute Vormittag und gerade eben:

27. Der Strudel der Weisheit
Katharina war noch nie in ihrem Leben mit Wasser in Berührung gekommen. Ihr Vater hatte dafür gesorgt, dass sie vom Fluss soweit wie möglich wegblieb. Sie fühlte sich schwerelos und ausgeliefert zugleich. Wieder Hilflosigkeit! Schon wieder ging es ihr an den Kragen und schon wieder starb sie tausend Tode. Sie starrte nach oben, während sie hinunter gezogen wurde, dabei drehte sie sich um sich selbst, als würde sie einen endlosen, gleichförmigen Tanz tanzen. Sie sah den schwarzen Planetenhimmel erst noch verschwommen, versuchte, sich daran festzuhalten, doch dann sah sie dieses Bild immer weiter verblassen. Ihre Reise im Strudel dauerte unendlich lange. Doch dann erinnerte sie sich an ihre Erlebnisse in der Illusion, welche die Echsen für sie gebildet hatten. Hier war sie schon tot. Sie hatte keinen Körper, auch das war nur eine Illusion. Also konnte niemand und nichts ihr hier etwas anhaben. Sie konzentrierte sich auf sich selbst, hörte auf, nach Luft schnappen zu wollen und ließ sich im Strudel treiben. Sie spürte, wie ihre Kraft stärker wurde. Das kalte Wasser war nicht mehr kalt, die Tiefe war nicht mehr beängstigend und Drehung des Strudels glich immer mehr einem Tanz, den sie selbst kontrollierte. Plötzlich färbte sich das Wasser um sie herum grün und sie konnte den Grund erkennen. Dort auf dem Grund wuchsen genauso Pflanzen, wie auf der Erde. Sie erkannte, dass es wie ein Wald war, nur unter Wasser. Sie hatte keine Angst mehr. Nun war sie bereit, sie wollte ihr Schicksal entgegennehmen, was auch immer es für sie bereit hielt. Und plötzlich strömten tausend Gedanken auf sie ein. Sie konnte Menschen und andere Wesen im Strudel denken hören. Sie begriff mit einem Mal all ihre Geschichten, konnte plötzlich alles verstehen. Und nicht nur das, sie hörte auch die Gedanken aller Tiere. Sie verstand alles, und dann vergaß sie es wieder, um für die nächste Welle der Verständnisses Platz zu machen. Das Wissen blieb nicht bei ihr, nicht in ihrem Bewusstsein, aber es brannte sich in ihre Seele ein. Sie begriff plötzlich, was sie war, warum sie so anders war und wohin sie gehörte. Und ganz zum Schluss sah sie auch ihre Familie wieder. Sie hörte ihre Gedanken, sprach mit ihnen, tröstete sie und vereinte ihre Seele mit ihnen. Nun waren sie alle für immer bei ihr. Niemand konnte ihr das jemals wieder wegnehmen. Sie wurde vollgespült mit ihren Erinnerungen, Gefühlen und Gedanken und fühlte sich ihnen ganz nah. Sie wünschte sich, dass es niemals aufhören würde. Sie fühlte sich im Strudel und unter Wasser plötzlich zu Hause.

Milva Rosenstock bereitete das Ritual vor. Sie hatte Katharina noch nicht das Gegengift eingeflößt, denn das würde dazu führen, das sie aus dem Koma erwachte. Das Gegengift stand aber griffbereit auf dem kleinen Beistelltisch neben ihrem Krankenbett. Milva brauchte jemanden dort, in der Zwischenwelt, als Verbündeten. Sie nahm den grünen Kristall und befestigte ihn mit flüssigem Kerzenwachs auf der Fensterbank. Sie musste die anderen Kristalle um den Körper herum, alle möglichst in der gleichen Höhe anbringen. Zum Glück war dort ein kleines Regal über dem Bett. Dort befestigte sie den seltenen Lila Kristall. Der gelbe kam auf den Bettpfosten am Fußende und der blaue auf dem Beistelltisch. Den seltenen Lila-Kristall hatte sie erst kürzlich von Wilderern bekommen, die sie eine Strafe hat zahlen lassen, damit sie sie nicht in Wild verwandelte. Nur so konnte sie den Menschen Respekt vor der Natur beibringen. Sie hatte die drei trotzdem noch verwandelt, aber nur mit einem einstündlichen Zauber.

Das Einzige, was ihr fehlte, war der rote Kristall. Diese fand man häufig unterirdisch und in der Nähe von Vulkanen. Trotz ihres hohen Alters hatte sie noch niemals so einen roten Kristall, zu Gesicht bekommen. Sie hoffte, dass das Ritual trotzdem ausreichen würde. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Sie hatte Visionen. Sie hatte diese Situation so oft in ihrem Kopf gesehen, dass sie einfach nicht anders konnte, als sich darauf vorzubereiten. Und dann fing die Vision an, sich zu verändern. Sie besorgte sich den Gehstock schon in jungem Alter, um damit zu trainieren. Nun sah sie sich mit dem Arzt kämpfen. Erst als sie mehr Wut entwickelte, sah sie sich als Siegerin des Kampfes. Daher wusste sie nun, dass Gutherzigkeit die Dummheit und Ignoranz der Menschen niemals besiegen konnte. Nur strenge Strafen, und ein hartes Durchgreifen würde das bewirken. Sie hatte sich selbst beigebracht, Harpyien zu zähmen. Das hatte den Ausschlag gegeben. Auch hatte sie sich nicht mehr auf grüne Magie beschränkt. Sie hatte Sprüche und Zaubertricks gelernt, von denen niemand erwarteten konnte, dass sie sie beherrschte. Unsichtbarkeit, Unterwasseratmung, Feuerbälle, Lebensentzug, Beschwörungsformeln. Da Zenobius so ein bestechlicher Narr war, der sich von den Reichtümern der Neuen Welt so vereinnahmen ließ, blieb es nun alles an ihr hängen. Die ganze Verantwortung. Sie würde ein Opfer brauchen, als Ersatz für den roten Kristall. Also würde sie kurzerhand den Arzt nehmen. Er würde, auf einem Stuhl neben dem Bett der schlafenden Königin einen roten Kristall ersetzen und dabei sterben. Sie fühlte normalerweise kein Mitleid mehr mit diesen Menschen. Sie waren selbst abgrundtief böse und ihnen war nichts heilig. Und sie wusste, dieser sogenannte Arzt hatte Katharina absichtlich in ein Koma versetzt, um von Zenobius mehr Gold verlangen zu können. Und sie wusste, was er mit ihr am Anfang ihrer Visionen getan hatte. Er war nicht unschuldig. Die einzige Frage war nur, ob sie es riskieren sollte, dass noch eine böse Person im Zwischenreich landete. Vielleicht sollte sie das Ritual erst einmal ohne Opfer versuchen. Sie hätte Katharina auch einfach aufwecken können, doch dann war die Zwischenwelt für die Elfen für immer verloren und ihr Volk würde aussterben. Ohne das Wissen der Vorfahren war es nicht möglich, den Menschen in irgendeiner Form überlegen zu sein. Sie würden den Kampf verlieren, denn die Menschenplage verbreitete sich einfach viel zu schnell auf diesem kleinen Planeten.

Der Kummer hatte Zenobius schwach gemacht. So schwach, dass er nicht mehr laufen konnte. Er hockte dort im Wald vor der Hütte der alten Milva Rosenstock und grübelte, bedauerte sich selbst und schämte sich. Er rief die grünen Götter an, dass sie ihm verzeihen mögen. Als er aufblickte, stand sie dort. Die größte weiße Wölfin, die er jemals gesehen hatte. Das Fell so weiß und lang, von makelloser Qualität. In der Größe und Qualität würde ihm so ein Fell ein Vermögen einbringen. Als geübter Jäger stellte er sich sogleich vor, wie er sie am besten erlegen könnte, damit das Fell keinen Schaden nimmt. Er stellte sich vor, wie er die Verarbeitung sein musste, damit sich die Qualität und der Preis des Fells noch steigerte. Und diesen schön geformten Schädel würde er mit Edelsteinen schmücken und dann mit Fellresten einen Hut draus nähen. Damit würde er zu einen berühmten Händler werden und viel Aufmerksamkeit ernten. Aus dem Fell würde er sich einen langen Mantel machen oder besser noch, einen Pelzmantel für Katharina. Er stellte sich vor, wie er sie damit zudeckte und sie sogleich wieder gesund wurde. Er musste daran denken, was Milva gesagt hatte. Goldgierig sei er. Er hatte seine Herkunft verraten. Aber waren Elfen nicht ausgesprochen gute Jäger? Sie nutzten die Güter des Waldes, um zu überleben. Fressen und gefressen werden. Das war schon seit Jahrhunderten so. Und diese Tradition der Jagd lebte in ihm weiter. Warum erkannte die Alte das nicht? Sie hatte sich auf einen Kampf gegen die Menschheit eingeschwört und hatte sich weiter von ihren Traditionen fortbewegt, als er. Eine Harpyie hatte sie gezähmt. Und in ihrer Hütte lagen allerhand Zauberbücher, die nichts mit grüner Magie zu tun hatten. Sie war schon lange keine Elfin mehr, sondern zu einer richtigen Hexe geworden. Und diese Hexe war gerade bei Katharina! Er musste hinterher. Aber er musste auch eine Entscheidung treffen, was diese Wölfin betraf. Je länger er diese prächtige Wölfin ansah, desto mehr wollte er sie töten und besitzen. Er wollte ihr Fleisch verzehren, um ihre Stärke zu bekommen. Das war Elfenbrauch. Er war nicht derjenige, der sich von seinem Volk entfremde hatte, sondern Milva. Er griff nach seinem Bogen.

Die Wölfin starrte diesen Mensch an. Noch vor kurzem hatte sie ein kleines Mädchen aus dem Fluss gerettet. Sie hatte Gedanken gehabt, die von einem fremden Wesen stammten und war ins Wasser gesprungen. Ein anderes Wesen hatte ihr ein Geschenk gegeben. Doch sie hatte den Kristall im Wald abgestreift, als die fremden Gedanken wieder verschwunden waren. Seitdem hatte sie sich immer näher an die Menschen heran getraut. Sie wollte wissen, was das war. Gehörten sie nun alle zu ihrem Rudel? Besonders dieser Mensch hatte viele von ihnen getötet. Doch die alte Frau hatte viele von ihnen gerettet und er hatte ihren Geruch angenommen. Hatte er sich wirklich geändert?
Als Katharina wieder zu sich kam, sah sie Zenobius mit einem Bogen auf sie zielen. Sie hockte am Boden und wollte schreien, doch es kam nur lautes Jaulen aus ihrem Maul. Mein Gott! Sie war im Körper einer Wölfin! In Sekundenschnelle begriff sie, was hier los war. Zenobius, der alte Jäger, wollte ihren Pelz. Sicherlich brauchte er viel Gold, um sie zu heilen, doch er hatte einen ganzen Sack voll davon gehabt und der hing ja auch noch an seinem Gürtel! Also warum? Warum Zenobius? Sie begriff, was diese Wölfin dazu veranlasst hatte, nicht zu fliehen. Sie sah ihre Erinnerungen. Das Mädchen im Fluss, die alte Seherin, eine Elvin und das blaue kleine Wesen aus dem Wasserreich. Der mächtige Kristall. Sie konnte nicht nur die Erinnerungen der Wölfin sehen, sondern auch die von Melli. Sie gehörte nicht in diese Welt, doch sie kannte die Echsen aus dem Zwischenreich und sie hatte die Wölfin dazu veranlasst, das Mädchen zu retten. Und nun war es an Katharina, dieser Wölfin das Leben zu retten. Sie begriff, dass sie mit Zenobius kämpfen musste und sah im gleichen Moment schon den Pfeil auf sich zukommen. Als Akrobatin und Tänzerin jedoch, kannte Katharina viele Tricks. Und dieser Körper war muskulös und durchtrainiert. Sie rollte sich blitzschnell zur Seite. Die Verblüffung, die sie in Zenobius Gesicht dann sah, nutzte sie sogleich aus, um ihn mit einem mächtigen Sprung zu Boden zu reißen und ihn Auge in Auge anzublicken.
„Zenobius, siehst du nicht, wer ich bin?“, wollte sie fragen, doch das wölfische Geheule, was aus ihrem Maul kam, konnte er nicht verstehen. Geschockt lag er da und bewegte sich nicht mehr, starrte sie an. Wie konnte sie ihm nur sagen, dass sie es war? Sie musste ihm ein Zeichen geben. Sie leckte kurz sein Gesicht ab. Dann nahm sie den Bogen mit ihrem Maul auf und zerbrach ihn mit einem kräftigen Biss. Sie ging zwei Schritte zurück und stellte sich auf die Hinterpfoten, um zu tanzen.
„Katharina!“, rief Zenobius.
Endlich, dachte Katharina. Er hat es begriffen.
„Du bist Katharinas Wölfin! Sie hat es geschafft! Mein Gott, sie hat es geschafft, eine Wölfin zu zähmen. Und ich hätte beinahe…“
Er griff sich ins Gesicht und konnte nur schwer seine Tränen unterdrücken. Fast geschafft, aber besser, als gar nichts, dachte Katharina. Nun wollte sie das Kind suchen, dass Melli gerettet hatte. Sie rannte davon. Hastig folgte sie der Fährte den Fluss entlang. Sie würde die Zeit nutzen, in der sie hier war, um Gutes zu tun. Immerhin war sie in ihrer eigenen Welt gelandet, anders als die arme Melli, die sich in einer fremden Welt vorgefunden hatte. Aber trotzdem hatte sie es geschafft, gutes zu tun! Und das würde auch Katharina tun, Sie würde dieses Kind beschützen.

 

 

28. Johns Alleingang
Als John gelernt hatte, sich mit den Tentakeln fortzubewegen, schaute er sich weiter um. Das Glas mit Mellis Seele hielt er fest mit einem seiner Tentakel umklammert. Er wollte sofort die Flasche öffnen, um sie zu befreien, doch so gut war er mit den Tentakeln noch nicht. Auch die Arme mit den großen Schwimmflossen waren keine große Hilfe. Seine Haut war glitschig und er konnte mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern das Glas nicht richtig fassen. An den Tentakeln hatte er immerhin Saugnäpfe. Er suchte nach Werkzeug. Würde ihre Seele Schaden nehmen, wenn er das Glas einfach gegen die Steinwand der Höhle schlug? Er versuchte es, doch instinktiv wusste er, dass es das härteste Material war, was es auf dieser Welt gab. Es war nicht nur Glas, es war Glas mit einer in Lava geschmolzenen Legierung aus Gold und Kristallen. Unzerstörbar. Das perfekte Seelengefängnis. Könnte er das Glas vielleicht irgendwo an Land verstecken, um es zu öffnen, wenn er wieder in einen anderen Körper springen würde? Das war eine gute Idee, aber zuerst würde er alle Informationen über dieses Wesen sammeln, die er finden würde. Es zog ihn in einen tieferen Bereich der Höhle und er folgte diesem Verlangen. Ihm war kalt geworden und aus diesen Teil der Höhle strömte warmes Wasser. Bald färbten sich die Wände rot und das Wasser wurde kochend heiß. Er wollte schon umkehren, aber er spürte, dass er diese Wärme von Zeit zu Zeit brauchte. Er verwandelte sich abermals. Seine Haut bekam einen schuppigen Panzer und wurde rot wie der glühende Stein um ihn herum. Seine Tentakel formten sich zu festen Körpern, die in mehrere Glieder unterteilt waren und er bekam einen Giftschwanz wie ein Skorpion. Als er in den größten Teil dieser Höhle kam, blickte er direkt in einen tiefen, brodelnden Vulkanschlund! Hier waren mehrere Wesen wie er, nur mit weniger Beinen, die sich vor ihm verbeugten. Er begriff, dass er der König war. Nur, was wollte dieser König von den Seelen? Hielt er sie als Geisel, um die Menschen zu erpressen, die Tiere in den Gläsern freizugeben? Wozu? Sie waren tot? Aber Moment mal, auch Melli und John waren tot und dieses Wesen hielt Mellis Seele in einem Glas lebendig! John begriff endlich, was das Wesen ihm zeigen wollte. Er brauchte diese Seelen, um sein Volk wieder zum Leben zu erwecken. John spürte, wie sein Einfluss auf diesen Körper sank. Das Wesen hatte den ersten Schock überwunden und forderte mehr und mehr die Kontrolle. John musste Mellis Seele in Sicherheit bringen! Schnell verließ er den roten Gang und hastete ins kältere Wasser. Sein Körper vollzog wiederum die Metamorphose und schließlich nutzte er beherzt seine Schwimmflossen, hob vom Meeresgrund ab und schwamm durch eines der Fenster Richtung Wasseroberfläche. Dort kletterte er, auf der Außenseite der Forschungsinsel, so hoch er konnte, was seine ganze Konzentration verlangte und platzierte die kleine goldene Flasche auf dem Absatz. Er wusste, dass dieses Wesen es vermied, an die Oberfläche zu kommen. Nur einmal hatte er es gewagt und etwas Schreckliches gesehen. Der Schock saß ihm noch tief in den Knochen. Wenn er wieder in einen Menschen landete, konnte er sich über die Reling beugen und von dort die Flasche greifen, hoffte er. Dann ließ er sich ins Wasser fallen und schwamm so weit es ging, von der Forschungsinsel weg. Er spürte, wie er den Körper verließ, und landete wieder im Strudel der Unendlichkeit.

Als er zu sich kam, lag er in stabiler Seitenlage in einem Raum mit anderen, die noch bewusstlos waren. Auf dem Tisch lagen Nahrungsmittel. Er hatte Hunger. Aber einer der Männer lag dort mit offenem Mund und ein Stück des Müsliriegels war ihm aus dem Mund gefallen. Vergiftet? Egal, essen konnte er später immer noch. Zuerst musste er die Flasche holen, in der Mellis Seele gefangen war. Also rannte er, so schnell diese müden Beine ihn tragen konnten, nach draußen, wo die Begrüßung stattgefunden hatte. Ihm wurde schwindelig. Was hatte man diesen Männern gegeben? Es war ein großer Kontrast zuerst in einem so lebendigen und willensstarkem Wesen zu sein und dann wieder in einem schwachen Menschenkörper zu landen. Er konnte die Gedanken dieses Mannes problemlos erkennen. Er hasste diese Dr. Baila und hatte Angst vor ihr. Und er hatte Erinnerungen an Melli! John sah diese Erinnerungen in allen Einzelheiten. Wie Mellis Haare ihr über die frechen Augen fielen, ihre spitze Nase und wie sie ihn anschaute. John begriff, dass dieser Robert in sie verliebt gewesen war. Vielleicht war Melli auch noch in ihn verliebt. Melli. Wo war sie? Und warum konnte sie sich ohne ihre Seele so willensstark durch die Gegend bewegen? Er musste ihre Seele finden und retten. Schnell war er draußen und spürte die leichte Brise, die vom Ozean herbei wehte. Er beugte sich über die Reling und suchte die Flasche. Hier war es nicht, es muss weiter entfernt von der Anlegestelle der Fähre sein. Er lief immer weiter und er wäre auch um die gesamte Forschungsinsel herumgelaufen, um sie zu finden, doch das musste er nicht. An der Hinterseite schließlich sah er sie weiter unten auf einem der Eisenträger stehen. Das war weiter weg, als er es in Erinnerung hatte. Dieser Oktopus-man war größer, als er angenommen hatte und diese Insel war ebenfalls riesig. Wie sollte er die Flasche nur erreichen? Er hatte keine Wahl, er musste herunter klettern. Er hasste es, das Leben dieses Menschen in Gefahr zu bringen, aber sie wollten beide Melli retten. Der Wunsch wurde so stark, dass er nicht lange überlegte. Robert kannte sich mit Kletterei sehr gut aus. Das war sein Hobby, also ließ John ihm vorerst die Oberhand über seinen Körper gewinnen. Gekonnt schwang dieser sich über die Reling und landete auf einem der Vorsprünge. Von da aus war es noch eine Strecke von etwa zwei Metern, die sie gemeinsam überwinden mussten. Doch der nächste Vorsprung war viel schmaler. Vorsichtig kletterte auf allen vieren an den Rand und ließ sich mit den Beinen herunter hängen. Für einen kurzen Moment dachte John:
„Wie soll ich später wieder hoch kommen?“, doch Robert stoppte Johns zweifelnden Gedanken und schwang sich zunächst vor und zurück, um sich dann im richtigen Moment auf den Absatz fallen zu lassen. Nur mit Mühe konnte er sich an der flachen, rostigen Wand festhalten. Ein paar Muscheln, die sich hier festgesetzt hatten, halfen ihm dabei. Doch sich zu bücken auf so einem schmalen Tritt, war noch einmal eine besondere Herausforderung. Er drehte seine Füße nebeneinander seitwärts und bewegte sich auf die Flasche zu, in dem er seine Füße auf dem schmalen Metallabsatz nach vorne schob. Einen nach dem anderen. Dann, als er nah genug war, beugte er sich vorsichtig nach vorne und griff nach der Flasche. Endlich! Der Triumph gehörte ihnen. Das Team Melli hatte gesiegt! Sie hatten ihre geliebte Melli gerettet! John war außer sich! Er merkte, wie auch Robert seine Erinnerungen anzapfte. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn, als er begriff, dass es bedeutete, dass sie Tod war. Bis zum Schluss hatte er gehofft und gebetet. Er steckte die Flasche in seine Tasche. John signalisierte ihm, dass sie nun zurückmussten. Robert folgte dem Absatz bis zur Ecke, dann schwang er sich auf die nächste Seite der Forschungsinsel. Vorne war die Andock-Rampe der Raumfähre zu sehen. Da war eine Sicherheitsleiter für Wartungsarbeiten. Gut, dass Robert den Grundriss dieser Einrichtung in- und auswendig kannte. Hier konnte man auch bequem gehen. Doch plötzlich fühlte er sich mulmig. Gebannt und voller Angst starrte er ins Wasser. Da war ein Schatten, der sich auf die Oberfläche zubewegte. Instinktiv wusste er, dass es der Oktopus war. Was für ein riesiges Ding! Robert fing an zu rennen. Er konnte sich nicht umschauen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, er rannte und rannte.

Während dessen las sich Melli im Körper ihrer verhassten Erzfeindin dessen Forschungsberichte durch. Den Oktopus hatte sie schon ganz am Anfang ihrer Zeit hier gesichtet. Er zerstörte die Tauchroboter anfangs gar nicht, sondern versuchte offenbar mit ihnen zu kommunizieren. Dr. Bail war besessen von der Idee, eine Menschenart zu züchten, die im Ozean leben konnte. Sie träumte vom Nobelpreis für Ökologie. Ob die Menschheit ihre Idee eines neuen Zeitalters der Menschheitsgeschichte überhaupt angenommen hätten, darüber machte sie sich keinerlei Gedanken. Sie war besessen! Um ihr Ziel zu erreichen, wollte sie Proben des Oktopus und der kleinen Wesen sammeln, mit denen er sich umgab und die er zu kontrollieren schien. Es gab Videos davon. Melli legte den dicken Ordner mit den Berichten aufgeschlagen auf den Schreibtisch und suchte dort nach einem Schlüssel. Endlich fand sie ihn, mit Klebeband an der Unterseite der Schublade befestigt. Sie öffnete damit einen Tresorschrank. Es waren lauter DVDs darin, die von 001 bis 123 nummeriert waren. Melli setzte sich hin und ließ die erste DVD laufen. Es sind Bilder, die der Tauchroboter unter Wasser gefilmt hat. Muscheln, Pflanzen, Korallen, Fische. Dann plötzlich kommen mehrere dieser kleinen blauen Wesen ins Bild. Sie umkreisen den Tauchroboter, man sieht kurz ihre winzigen, menschenähnlichen Gesichter, dann schwimmen sie davon. Am Ende der DVD sieht man Dr. Baila mit ihren Studenten, wie sie die Entdeckung feierten, grölten, tanzten und sich betranken. Melli kennt diese Studenten nicht. Es müssen die ersten sein, die hier gewesen sind. Die zweite DVD zeigt einen riesigen Schatten in der Ferne, der sich dem Roboter nähert. Eine Stimme im Hintergrund kommentiert das Geschehen live. Das ist neu. Melli hört Dr. Baila sagen:
„Oh mein Gott, was ist das? Weg mit dem Roboter!“
Doch das Ding holt den Roboter wieder ein. Man sieht, wie von hinten ein Tentakel nach der Kamera greift. Der Roboter wird auf die Seite geworfen und weggeschleift. Irgendwann bricht die Halterung mit der Kamera ab und das Video ist zu ende.
Dritte DVD. Man sieht den Oktopus, wie er sich dem Tauchroboter nähert. Sie haben ihn mit Futter angelockt. Dr. Baila kommentiert:
„Offenbar ein Fleischfresser!“
Die vierte DVD. Der Oktopus schließt Freundschaft mit dem Roboter. Er bringt ihm Futter. Muscheln, aber auch Mineralien, die er offenbar auf dem Meeresgrund gesammelt hat. Glänzende Steine, die sich nach einer Analyse als Rohdiamanten entpuppen sollen, das weiß Melli aus den Berichten. Immerhin hat Dr. Baila alles dokumentiert, aber über den Fund von Diamanten hatte man auf der Erde niemals etwas erfahren. All dies, was in ihrem Geheimlabor dokumentiert war, hatte sie offenbar vor ihren Vorgesetzten verheimlicht. Und die Studenten hatte sie zu Mitwissern gemacht. Mit so einer Menge Diamanten hätte Dr. Baila sich die Forschungsinsel kaufen können. Dann wäre sie unabhängig von jeglicher Kontrolle der Regierung. Aber offenbar wollte sie den Fund lieber geheim halten. Melli verstand das. Dr. Baila war besessen davon, eine Menschenart zu erschaffen, die unter Wasser leben konnte. Der Fund von Edelsteinen, wertvollen Metallen oder gar Diamanten hätte dazu führen können, dass man die ökologischen Pläne zur Erforschung aufgab und wieder zum ausbeuten der Ressourcen überging, wie man es schon auf der Erde, bis zur fast völligen Zerstörung der Ökosysteme, gemacht hatte. Melli griff sich eine weitere DVD. Nummer 37. Keine Bilder des Tauchroboters, statt dessen Dr. Baila in ihrem Labor. Vor ihr auf dem Tisch liegt eines der kleinen blauen Wesen und zappelt hilflos. Dr. Baila setzt einen Schnitt. Melli muss wegsehen. Wie grausam! Was macht sie da überhaupt? Und warum? Es steht in ihren Berichten. Sie will wissen, wie diese Wesen funktionieren. Sie weiß bald alles über sie. Über ihre Metamorphosen, zu denen sie fähig sind, was sie fressen, wie ihre Körper aufgebaut sind. Nur findet sie niemals heraus, wie sie sich fortpflanzen. Und auch findet sie nicht heraus, wieso sie dem Oktopus folgen. Ihre Theorie: diese Wesen sind aus Eiern entstanden, die der Oktopus gelegt hat und befinden sich in einem Larvenstadium. Aber beweisen kann sie es nicht. Melli kann sich die DVD nicht weiter ansehen. Das Wesen scheint sogar um Hilfe zu schreien. Sie nimmt die DVD raus und steckt eine andere herein. Nummer 56. Mehrere der Wesen in einem Fischtank. Studenten bei der Fütterung. Dann fangen sie eines der Wesen, dass auch wieder ängstlich um Hilfe schreit. Es ist ein schriller Ton, der Melli durch Mark und Bein geht. Doch die Studenten lässt das unbeeindruckt. Es sind andere, als am Anfang. Offenbar hat Dr. Baila immer einige ihrer Studenten in ihre illegalen Machenschaften hineingezogen. Sie nehmen das Wesen heraus und schneiden ein Stück Fleisch aus dem zierlichen Körper. Das Wesen hat Schmerzen. Melli wischt sich eine Träne aus dem Auge und spult vor. Am Ende wird das Wesen eingeschläfert und in einem der Gläser konserviert.

Melli denkt darüber nach, mit diesem Körper einfach über die Reling zu springen. Sie selbst kann nicht mehr sterben und Dr. Baila könnte dann nichts mehr anrichten.
DVD Nummer 77. Dr. Baila filmt sich selbst. Niemand sonst ist anwesend. Sie jammert:
„Der Oktopus zerstört nun jeden meiner Roboter! Wenn das so weiter geht, werden wir nicht genug Material bekommen, um unsere Forschung zu vollenden. Wir müssen mit dem U-Boot herunter, um neue Wesen zu fangen. Ist es moralisch, was wir tun? Vielleicht nicht, aber wer wird später noch danach fragen, wenn es uns möglich ist, jeden Ozean zu besiedeln, den wir in diesem Universum finden?“
Das ist dann wohl der Zeitpunkt, wo sie, aufgrund ihrer schändlichen Taten, endgültig den Verstand verliert.
DVD Nummer 98. Dr. Baila und ihre Studenten quälen die Wasserwesen.
Nummer 102. Wieder das Gleiche. Melli kann es nicht mehr ertragen. Wie krank muss man sein, um so etwas zu tun?
Dann greift sie zur vorletzten DVD.
Zwei Studenten stellen ihr Projekt vor. Der Name des Projekts heißt Metamorphose. Sie haben aus den Körpern der kleinen Wesen einen Extrakt gewonnen, den sie sich nun spritzen wollen. Es sind die beiden vermissten Studenten. Gerade, als sie es tun wollen, kommt Dr. Baila herein und hindert sie daran.
„Zuerst Tierversuche, dann Menschenversuche!“, belehrt sie ihre Studenten.
Das letzte Video. Melli sieht sich selbst. Sie sitzt nackt und gefesselt auf einem Stuhl. Der Student mit den schwarzen Haaren zieht eine Spritze auf. Dr. Baila sitzt am Schreibtisch und notiert sich etwas, der Student mit den blonden Locken filmt das Ganze offenbar und lässt ab und zu einen Kommentar ab.
„Wollen wir sie nicht vorher noch mal benutzen, ich meine später hat sie dort nur noch Flossen!“, lacht er. Der andere grinst. Melli kann ihre eigene Angst und ihre Wut sehen.
„Haltet einfach die Klappe, ihr Idioten! Das ist ein ganz besonderer Moment, das begreift ihr offenbar gar nicht!“, brüllt Dr. Baila sie an.
„Doch Dr. Baila, wir begreifen das!“, hört man die Stimme hinter der Kamera schleimen.
„Dann verhaltet euch auch so, verdammt! Und nun fang endlich an.“
Der schwarzhaarige gibt Melli die Spritze mit dem blauen Sekret. Sie wehrt sich, doch es ist sinnlos. Man hat sie mit einem der Wasserschläuche gefesselt. Sie kann sich kaum bewegen. Nun geht der Student aus dem Bild. Man sieht Melli in Großaufnahme. Schon nach einigen Sekunden setzt die Metamorphose ein. Ihre Haut färbt sich blau, sie bekommt Schwimmhäute und an ihrem Hals bilden sich Kiemen. Ihre Beine verschmelzen zu einer einzigen großen Flosse. Dann sieht man die drei Jubeln und herumtanzen. Melli kann es nicht fassen. Sie haben aus ihr eine Meerjungfrau gemacht! Das war der blinde Fleck. Das war das, was sie vergessen hatte!
Doch die DVD geht weiter. Tentakel kommen ins Bild. Dr. Baila erblickt etwas und wird bleich. Sie rennt davon. Die Tentakel kämpfen mit den Studenten, die zu erstaunt sind, um sich richtig zu wehren. Der Oktopus-man zieht sie mit seinen Tentakeln aus dem Raum. Man hört ihre Schreie. Wenig später kommt er zurück und befreit Melli von dem Stuhl, die inzwischen ohnmächtig geworden ist. Er trägt sie vorsichtig davon.

Melli atmet schwer. Ist sie am Ende gar nicht tot? Lebt sie dort unten irgendwo als Meerjungfrau zusammen mit diesem riesigen Oktopus-man? Das war die Letzte der DVDs. Aber da ist noch ein zweiter Schrank, der abgeschlossen ist, für den der Schlüssel nicht passt. Doch bevor Melli etwas tun kann, wird sie aus dem Körper wieder in den Strudel geworfen und muss sich damit abfinden. Sie kennt nun die ganze Wahrheit über ihr Verschwinden. Aber sie hat Dr. Baila noch nicht gestoppt, sie hat die Leute auf der Station noch nicht gerettet und sie weiß nicht, wohin der Oktopus-man sie gebracht hat und ob sie noch lebt.
Sie wird noch eine letzte Sache machen, bevor sie verschwindet. Sie öffnet die Gläser mit den Präparaten und gießt sie ins Wasser. Hoffentlich können die geschundenen Seelen dieser Wesen so endlich ihre Ruhe finden. Die Videos sind Beweis genug. Sie schließt den Schrank wieder ab und versteckt den Schlüssel woanders, wo nur sie ihn wieder finden kann.

Gerade, als sie aus dem Körper verschwindet, hört sie Roberts Schreie.