Ich könnte mich aufregen

Ich könnte auch Angst haben. Aber irgendwann hat man alle negativen Gefühle verbraucht. Dann kommen die anderen dran. Man kann sich nicht ein Leben lang damit beschäftigen. Die Kraft reicht einfach nicht dafür. Es geht einfach alles irgendwie an mir vorbei an manchen Tagen. Und das ist gut so. Ich muss da nicht mitmachen, wenn außerhalb meines Körper die gleiche Psychose weiter geht, die andere mir früher auch schon andichten wollten. Muss ich nicht und mehr sag ich dazu nicht.

Ich mache meine Übungen und lebe mein Leben und bin mit dem Staus Quo zufrieden. Ist ja schon gut, wenn ich nicht sterbe. Vielleicht sollte ich das lernen. Mit dem zufrieden zu sein, was ich habe und nicht immer mehr zu wollen. Denn es könnte ja schlimmer kommen. Ich könnte chronisch krank sein oder tot. Oh Moment, chronisch krank bin ich ja irgendwie. Aber irgendwie noch nicht krank genug für manche Leute, oder? Wieso hab ich immer das Gefühl, dass keiner mir was gönnt? Ist das überhaupt noch aktuell? Vielleicht fühle ich die ganze Zeit nur sinnlose Gefühle. Vielleicht sollte ich endlich mal was anderes fühlen?

Und wieder ist das Schreiben Therapie für mich. Ich schreibe und es geht mir ein Stück weit besser. Weil mit jedem Kapitel, dass ich trotzdem schreibe, das Muster des ewigen Misserfolgs unvollendeter Geschichten und ungenutzter Ideen, endlich aufbricht. Es zerfällt wie morsches Holz, verrottet wie Gartenabfall und zerbröselt, wie die Mauern einer unbewohnten Bruchbude. Das Muster brauche ich nicht mehr. Die Geschichte schreibt sich wie von selbst. Immer, wenn ich denke, es geht nicht mehr weiter und jetzt wäre der Zeitpunkt, wo alles an Motivation in mir zusammen bricht, dann geht es doch weiter. Die Figuren fordern das von mir. Sie leben in meinem Kopf und sie zeigen mir, in welcher Geschichte sie spielen wollen. Und ich tauche immer mehr ein.

Die Überarbeitung wird lange dauern. Aber darüber mache ich mir noch keine Gedanken, denn erst kommt die Handlung, dann der Feinschliff. Und ich bin stolz zu sagen, dass ich heute wieder etwas geschrieben habe, obwohl ich schon meinen neuen Receiver aufgebaut habe und pausenlos fernsehen könnte, in bester Qualität und sogar die englischen Programme! Das dieses Ding manchmal einfach abstürzt, hat gar nichts damit zu tun. Der HDMI-Switch funktioniert. Alle funktioniert und ich funktioniere auch wieder. Ich schreibe, ich arbeite, ich esse, schlafe, trinke, mache Sport, wasche Wäsche. Aufhören zu jammern, bitte die Geschichte.

Der Unfall

Als Melli landete, wurde ihr übel. Zuerst wusste sie nicht warum, aber dann ahnte sie etwas. Schnell versuchte sie, sich zu orientieren. Sie war in einem der Zimmer der Station. Die Vorhänge waren zugezogen, dabei war es Tag. Sie zog sie mit einem Ruck beiseite. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es der richtige Planet war.
Wer zog denn tagsüber die Vorhänge zu? Jemand, der seekrank war, vielleicht? Instinktiv wusste sie, dass dieser Mensch eine große Angst vor der Weite dieses Ozeans hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand sie Mitleid, aber sie verbot sich das. Zuerst musste sie feststellen, was hier los war und ob ihr Verdacht stimmte.
Das Zimmer war größer, als ihr altes Zimmer hier. So wurde ihr nebenbei bewusst, in was für einer Abstellkammer sie hatte leben müssen, dabei war hier so viel Platz! Sie fokussierte nun ihr Spiegelbild im Fenster und das kalte Grausen schlug sie fast aus den Schuhen. Sie war in Dr. Bails Körper. In dem Körper ihrer Mörderin! Wie konnte das sein? Warum? Hätte sie sich mit diesen Aliens vielleicht doch besser stellen sollen? Hatten sie sie vielleicht so bestrafen wollen? War sie noch in derselben Zeitlinie, in der sie zuvor in Roberts Körper war oder musste sie nun ihren eigenen Mord verhindern, indem sie in den Körper ihrer Mörderin schlüpfte? Verzweifelt suchte sie die Toilette und musste sich eine halbe Stunde lang ununterbrochen übergeben. Dr. Bail hatte viel zu viel von ihren eigenen bescheuerten Erfindungen gegessen. Aber das war es nicht, was diese Übelkeit und den Brechreiz auslöste, sondern dieser widerliche Körper. Es war keine Seekrankheit, es war Einsamkeit, das wusste Melli nun. Mörder sind in den tiefen ihres Herzens nun mal extrem einsame Menschen. Man kann eben nicht alles haben, die Macht und die Freundschaft. Es geht immer nur eines von beiden. Sie fand alles an diesem Körper ekelhaft und wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder zu den Aliens in den Ozean der ewigen Leere einzutauchen und mit ihnen zu diskutieren, ob Frauen nun berechtigt dazu waren oder nicht. Alles war besser als das hier. Dr. Baila trug viel zu enge Schuhe mit hohen Absätzen. Melli brauchte alle ihre Kraft, um sie sich von den Füßen zu ziehen. Die Zehen dieser Frau waren zusammengequetscht und krumm. Sie hatte mindestens Größe 43, trug aber Schuhe in Größe 41. Das war nicht gesund. Unter ihrem Kittel trug sie allem Anschein nach so etwas wie Reizwäsche. Melli wusste instinktiv, dass Dr. Baila heute vorgehabt hatte, einen der männlichen Praktikanten zu verführen. Ja, das hatte sie schon früher getan. Vielleicht konnte sie so der Einsamkeit eine Weile entfliehen. Melli riss sich die Kleidung vom Leib und ging duschen. Sie musste diesen Geruch loswerden. Es war der Geruch einer Mörderin. Danach suchte sie in dem Schrank dieser Person nach passender Kleidung. Sie fand nichts Richtiges. Nur ein weißes T-Shirt, das Dr. Baila offenbar aussortiert hatte, eine Jeans und ein paar Schuhe, die ihr irgendwie bekannt vorkamen. Moment mal! Das war ihre Kleidung! Das war die Kleidung, die sie an ihrem letzten Tag angehabt hatte, als sie getötet wurde. Aber wie konnte das sein? Die Kleidung musste mit im Müllzerkleinerer gelandet sein! Leider erinnerte sie sich nicht besonders gut an diesen Tag. Sie zog die Sachen über. Sie waren zu weit, aber es war besser, als all das andere Zeug, dass diese Person in ihrem Schrank hatte. Melli kontrollierte sorgfältig noch einmal alles. Vielleicht fand sie ja noch mehr Kleidungsstücke von den anderen vermissten Personen. Und tatsächlich. In einer dekorativen Holztruhe vor dem Fenster fand sie Männerkleidung. Sie erinnerte sich nur flüchtig an die beiden Praktikanten. Sie waren ständig bei Dr. Baila im Zimmer gewesen und Melli hatte diese Zeiten genutzt, um in der Forschungsstation ein wenig herumzuschnüffeln. Aber der eine war sehr groß und schwarzhaarig gewesen mit einem verwegenen, sehr männlichen Dreitagebart und dicken Augenbrauen, während der andere kleiner und breiter war, sehr muskulös und mit blonden lockigen Haaren und einem Vollbart. Was sollte sie nun tun? Sie war die Böse. So konnte sie zwar verhindern, dass Dr. Baila in dieser Zeit etwas Böses tat, aber sobald Melli diesen Körper wieder verließ, was unweigerlich passieren würde, konnte Dr. Baila mit dem, was auch immer sie noch vorhatte, weitermachen. Da war diese Kommissarin gewesen. Sollte sie der Kommissarin einfach alles beichten und sich dann stellen? Aber die Kleidungsstücke widerlegten die Theorie, dass sie im Müllzerkleinerer gelandet war. Sie musste irgendwie die Erinnerungen dieses Miststücks anzapfen, um herauszufinden, was wirklich passiert war. Und wo waren die anderen? Lebten sie noch? War sie selbst vielleicht gar nicht tot, sondern lag irgendwo herum, in ein Koma gefallen, vor der Welt und neugierigen Fragen versteckt? Forschungsunterlagen! Sie musste die geheimen Akten von Dr. Baila finden. Und wo mochten diese wohl sein? Natürlich in ihrem Geheimlabor. Das war, wo sie die kleinen Wesen in den Gläsern gesehen hatte und Dr. Baila sie beim Schnüffeln erwischt hatte. Den Weg dahin wusste sie noch. Hastig stürmte Melli im Körper von Dr. Baila aus der Tür, nur um sogleich schrecklich über einen dort liegenden Körper zu stolpern. Es war diese Kommissarin. Alison Laurent. Melli fühlte vorsichtig, ob sie noch einen Puls am Hals finden konnte. Sie war nur bewusstlos. Trotzdem hatte Melli das Gefühl, zu spät zu sein. Als sie sich umschaute fand sie die Roboter. Natürlich. Dr. Baila kannte sich mit Technik sehr gut aus. Schließlich wartete und bediente sie auch die Tauchroboter. Melli begriff, dass sie eine elektromagnetische Impulswaffe benutzt hatte, um ihre Festplatten zu löschen. Natürlich. Sie ließ mögliche Beweisen verschwinden. Etwas weiter hinten im Flur lag Murena, ebenfalls bewusstlos. Die Tür zum Frühstücksraum stand offen. Melli ging hinein und fand die drei Männer, einschließlich Robert. Was hatte dieses Biest ihnen gegeben? Melli hatte zwar eine Ausbildung in erster Hilfe, aber mehr, als die drei in eine stabile Seitenlage zu bringen, konnte sie im Moment nicht tun. Das dauerte sehr lange, da die Männer sehr schwer waren. Was nun? Sie brauchte Hinweise, was hier passiert war. Vielleicht konnte sie die Roboter irgendwie reparieren? Was tat man hier, wenn es einen Notfall gab? Aber sie wollte nicht, dass Dr. Bail am Ende als Heldin dastand. Hinweise. Wo sollte sie Hinweise finden? Das Labor! Sie musste es durchsuchen. Schnell rannte sie durch die Flure, bis sie im Hangar stand. Hier wurden die Tauchroboter losgeschickt. Irgendwo hatte Melli hier damals einen Knopf gedrückt und so einen geheimen Durchgang gefunden. Der Anblick des Wassers in der Schleuse machte sie nervös. Hineingefallen und von einem Oktopus in die Tiefe gezogen?
Jetzt erinnerte sie sich. Sie war beim Schnüffeln erwischt worden und musste Dr. Bail versprechen, niemandem von ihren geheimen Experimenten zu erzählen.
„Wie viel haben sie gesehen und wie viel haben sie davon verstanden?“
Und Melli hatte geantwortet:
„Nun, ich weiß, dass es unethisch ist, nahezu menschenähnliche Wesen für Experimente zu missbrauchen. Manche meinen sogar, dass es überhaupt unethisch ist, irgendwelche Wesen für Experimente zu missbrauchen!“
Und sie hatte Erleichterung in ihrem Gesicht erkannt.
„Ach das. Ja. Ich habe zu spät begriffen, dass sie menschenähnlich sind. Ich war hier neu und habe mich mitreißen lassen. Ich habe damit schon lange aufgehört. Das verspreche ich ihnen.“
Dann versprach sie Melli noch viel mehr. Sie durfte sich nun aussuchen, in welchem Bereich sie arbeiten wollte. Sie bekam ein größeres Zimmer, mehr zu essen, eine höhere Aufwandspauschale, und viele andere Vergünstigungen. Melli zögerte.
„Ich will diese Wesen sehen!“, sagte sie dann.
Dr. Bail holte ein Glas aus dem geheimen Labor und hielt es ihr vor die Nase. Dabei achtete sie darauf, dass die Tür nicht einen Spalt offen stand. Melli ahnte, dass da noch viel mehr war, was sie nicht gesehen hatte. Diese Frau hatte Nerven, ihr dieses geschundene Wesen in konservierter Form zu zeigen. Melli rümpfte verärgert die Nase und drehte den Kopf angewidert zur Seite.
„Nein. Ich will sie lebendig sehen. In ihrem natürlichen Lebensraum!“
„Das geht nicht.“
„Dann erfahren es alle!“
Dr. Bail fing an zu schwitzen und stotterte:
„Nein. Warten sie. Das geht nicht. Dort unten ist ein riesiger Oktopus, er zerstört meine Tauchroboter. Es geht einfach nicht. Es ist zu gefährlich! Wir haben zwar ein U-Boot, aber ich benutze es selbst auch nicht. Er ist riesengroß. So groß wie ein Haus! Und er ist aggressiv und greif einfach alles an!“
Melli wollte diese Wesen unbedingt sehen. Außerdem wusste sie, dass Oktopusse scheu sind. Sie dachte, dass Dr. Bail lügt, so wie sie schon oft gelogen hatte.
Als Melli sich am Erinnern war, wurde ihr bewusst, dass John gar nicht hier war. Sie waren zusammen in den Strudel gezogen worden. Aber wo war er? Das war es, die Erinnerung war unterbrochen und sie schaffte es nicht, den Faden wieder aufzunehmen. Sie musste also weiter nach Hinweisen suchen. Vielleicht war John in dem Körper von einem der vermissten Männer gelandet und suchte nun den Weg zu ihr? In der Zwischenzeit musste sie ihre Aufgabe hier erledigen. Vorrangig war jetzt, erst mal die Wahrheit herauszufinden. Offenbar war es doch komplizierter als ein einfacher Unfall mit einem Müllzerkleinerer. Und einfach in die Schleuse gefallen? Nein. Da war eine Sicherheitsabsperrung. Man konnte nicht einfach hineinfallen. Es sei denn, die Türe zur Schleuse war schon geöffnet. Das U-Boot. Schnell rannte sie in Richtung U-Boot, denn sie musste überprüfen, ob es noch hier war. Wenn nicht, dann war sie vielleicht tatsächlich damit losgefahren!

Als John zu sich kam, war sein erster Reflex, nach Luft zu ringen, denn er befand sich unter Wasser. Doch nach einer Zeit sinnlosen Todeskampfes merkte er, dass er gar nicht ertrank. Er konnte irgendwie atmen. Als er sich umsah, befand er sich in einer Art Zimmer, nur dass es hier unter Wasser war. Licht kam von leuchtenden Korallen. Die Wände waren aus Felsen, die teilweise sehr hübsch mit Moos bewachsen waren. Muscheln schwammen hier herum und kleine bunte Fische. In der Ecke war eine Art Nest aus weichen Materialien. Er spürte instinktiv, dass er dort schlafen würde. Aus den Felsen waren geometrische Formen geschlagen, die offenbar als Regale dienten. In jedem dieser Regale standen einige Flaschen. Sie leuchteten wunderschön golden und glänzten in der Sonne, die von ganz weit oben durch das Wasser in diesen Raum drang. Als er sich darauf zubewegen wollte, merkte er, dass sein Unterkörper nicht mehr aus zwei Beinen bestand. Er hatte Arme, einen Kopf und den Oberkörper eines blau-schuppigen Mannes, alles normal, bis auf die Haut, die Schwimmhäute unter den Armen und die Hörner auf dem Kopf. Aber sein Unterkörper bestand aus acht einzelnen Oktopus-Tentakeln, die er noch nicht zu kontrollieren schien. Doch irgendwann hatte er sich beruhigt und stand endlich vor einem dieser Regale. Er spürte die Hilfeschreie. Er spürte, dass etwas darin war, was wieder heraus wollte. Etwas, was man nicht sehen konnte, wohl aber fühlen. Und er spürte, dieses Wesen, dieser Körper, in dem er war, wollte es besitzen. Es spürte Wut, Verzweiflung und Rachegelüste. Er erinnerte sich an das, was dieses Wesen so aufgebracht hatte. Es hatte ein Labor gesehen und dort seine Kinder tot in Gläsern. Und Melli war dort gewesen. Meine Güte. Was war hier bloß passiert? Hatte Melli am Ende Dr. Bail bei irgendetwas geholfen und es nur verdrängt? Er schaute sich eines der Gläser besonders an. Dann packte ihn das Grauen, als er endlich begriff, als er spürte, dass in diesem Glas Mellis Seele gefangen war und verzweifelt um Hilfe rief!